Sys­te­ma­ti­scher Wei­ter­bau am Welt­erbe

Im Hinblick auf die Erweiterung der berühmten Kehrtunnels der Albulalinie führte die Rhätische Bahn (RhB) eine Studie durch, um die Umbauweise der Tunnelportale zu definieren. Das prämierte Büro Rolf Mühlethaler Architekten schärft das bestehende Konzept und übernimmt die gestalterische Begleitung.

Publikationsdatum
02-05-2024
Thomas Ekwall
MSc. EPFL Bau-Ing., MAS ETHZ Arch., Korrespondent TEC21

Linienkonzept Albula – Tunnelportale, Linie Thusis–St. Moritz;
Einstufige Projektstudie auf Einladung

Die Albulalinie zwischen Thusis und St. Moritz zählt seit 2008 zum UNESCO-Weltkulturerbe. Sie zeichnet sich durch eine einheitliche Linienführung und Kunstbauten aus, die zwischen 1898 und 1904 in die Landschaft integriert wurden. Gemäss Welterbekommission haben diese zu einer harmonischen Entfaltung der menschlichen Kultur im alpinen Raum beigetragen. Der über hundertjährigen Infrastruktur steht nun eine umfangreiche Instandsetzung bevor, bei der der Erhalt von historischer Substanz, die wirtschaftliche Entwicklung der RhB und die erhöhten Sicherheitsanforderungen des Bundesamts für Verkehr (BAV) gewichtet werden müssen.

So wie die Viadukte, Stützmauern und Tunnel durch den Ingenieur Friedrich Hennings (1838–1922) nach systematischen Ansätzen entworfen wurden, soll nun auch der Weiterbau mit mustergültigen Lösungen erfolgen. Seit 2017 werden schadhafte Tunnelröhren mithilfe von Tübbings (Betonfertigteile; vgl. espazium.ch, «75 Tunnel, 1 Umbaukonzept») auf das sicher­heits­tech­nisch geforderte Licht­raum­profil EBV A erweitert. Diese Massnahme stellt allerdings hohe Anforderungen an die Gestaltung der ver­grös­serten Tunnelportale, die als Bindeglied zwischen dem äusseren, historischen Hufeisen­profil in der grob behauenen Portalwand und der inneren, statisch optimierten Form der präzis verschränkten Tübbings vermittelt.

Solche Bereiche wurden bisher anhand eines Grundsatzentwurfs des Ingenieurs Jürg Conzett umgebaut, der eine materialgetreue, jedoch skalierte Rekonstruktion um den Faktor 1.11 der ursprünglichen Abmessungen vorsieht. 2021 lehnte die Eidgenössische Kommission für Denkmalpflege (EKD) die Umbaugenehmigung des historisch bedeutungsvollen Toua-Kehrtunnels aber ab: Der Betrachter dieses «pseudohistorisch gestalteten Objekts» würde nicht erkennen, dass es sich um eine zeitgenössische Interven­tion handle.

Quartett mit Bandbreite

Für die einstufige Projektstudie lud die RhB im Auftrag des Bundesamts für Kultur (BAK) vier Planungsteams bestehend aus Architektinnen und Bauingenieuren ein. Ihre Konzepte durften den Charakter von Skizzen haben, die im Anschluss an Zwischenbesprechungen verfeinert und an einer Schlussbesprechung abschliessend begutachtet wurden. Die achtköpfige interdisziplinäre Jury musste ihre Bewertungskriterien aufgrund der wesensunterschiedlichen Ansätze der Projekte neu gewichten. Sie erkor schliesslich den Entwurf von Rolf Mühlethaler zum besten Projekt und empfahl die Planenden für die gestalterische Begleitung der vier nächsten Tunnelportalumbauten weiter.

Dezent signalisieren

Wider Erwarten wird der Charakter der Tunnelportale in der Landschaft unverändert bleiben: Rolf Mühle­tha­ler be­reichert einerseits Jürg Conzetts Grundsatz mit einer Kombination aus skalierter und identischer Rekonstruktion. Andererseits verlängert er die Kabelkanäle aus Beton – die zur Grundausstattung der modernisierten Tunnelröhren gehören – beidseits der Gleise nach aus­sen, um den zeitgenössischen Eingriff zu signalisieren.

Der Entwurf von Aita Flury hingegen schlägt eine neue Kom­position der halbkreisförmig angeordneten Kranzsteine des Gewölbes in einer expressiven «Kranzfrisur» vor, die dem grösseren Radius der Tunnel­öffnung Rechnung trägt. Weiter schenkt er den Paramenten, die den Portalrand unterhalb des Kranzes bezeichnen, einen eigenständigen Charakter als monolithische Stelen. Diese Haltung einer «Intensivierung der Wirkung» für den Ersatz der «untersetzten und rustikalen» historischen Portale ging der Jury allerdings zu weit, aus­serdem wirke die konstruktive Lösung zu gesucht.

Die Intervention von Pedrazzini Guidotti ist durch die vorge­fertigten Portaltübbings auf den ersten Blick erkennbar. Der sichtbare Abschied vom Leitsatz «Ehre dem Stein» des prägenden Ingenieurs der Albulabahn, Robert Moser (1833–1901), konnte die Jury angesichts ihres Zweifels um die Akzeptanz in der Gesellschaft und der Fachwelt zum Erscheinungsbild des Denkmals nicht gutheissen.

Der Entwurf von Capaul & Blumenthal ordnet Konsolsteine oberhalb des Gewölbes an, die zur Stabilisierung der Portalwand während der Erweiterung des Tunnelprofils aktiviert werden und nach dem Umbau als Spur ablesbar bleiben. In diesem Sinn ist die subtile Intervention vergleichbar mit den punktuellen Aussparungen unterhalb eines Pfeilerkopfs im Brückenbau, die zur Abstützung eines Lehrgerüsts dienen. Hier erweist sie sich jedoch als technisch aufwendig und nicht auf alle Standorte übertragbar.

Bindeglied zweier Welten

Für den Übergang von der gemauerten Portalwand zum Tunnelinnern aus Beton bringt Rolf Mühlethaler die entscheidende Idee eines Vortunnels aus Natursteinmauerwerk ein, der gleich einer Manschette stumpf an die Tübbings anschliesst. Dank der individuell definierten Länge der Vortunnels entsprechend dem Schlagschatten der Portale bleiben die Betontübbings samt harter Schnittstelle von aussen möglichst unsichtbar.

Im Gegensatz dazu for­mulieren Capaul & Blumenthal und Aita Flury kürzere und geometrisch fliessende Übergänge von Hufeisen- zu Tübbingform, die präsenter und ausführungstechnisch anspruchsvoller gewesen wären. Bei Pedrazzini Guidotti entfallen solche Problematiken dank der einheit­lichen Materialisierung und Vor­fabrikation. Mithilfe des werkseitig formbaren Stahlbetons definieren sie Portalfertigteile variabler Stärke, die sowohl den inneren Umriss der Tübbings als auch die äussere historische ­Hufeisenform als filigranen Fries materialisieren.

Handwerk statt Re-Use

Das Siegerteam baut die neue Portalwand mit den grob behauenen Steinen des Abbruchs wieder auf, lässt aber die qualitätvoll gefertigten Kranzsteine des Bestands weg. Dabei lagen interessante Konzepte eines beinahe unversehrten Denkmalbestands vor: Der Ingenieur Gia­chen Blumenthal des Teams Capaul & Blumenthal wies ein vergrössertes Portal aus bestehenden Kranzsteinen und ausgleichenden, keilförmigen Fugensteinen statisch nach. Der ­Ingenieur Andrea Pedrazzini des Teams Pedrazzini Guidotti bewahrt die Portalwand, indem die Vergrösserung mittels Diamantdraht oder -trennscheibe präzise ausgeschnitten und das vorgefertigte Portalbauwerk frontal eingeschoben wird.

Immerhin sei zu bemerken, dass der Kanton Graubünden mittels Richtlinien und qualifizierten Fachkräften eine lebendige Tradition des Infrastrukturbaus mit Naturstein unterhält, weshalb die bisher rekonstruierten Portale in ihrer Umgebung weder forciert noch anachronistisch wirken.

Authentisches Welterbe

Rückblickend überrascht die Weiter­führung des ursprünglich bemängelten Rekonstruktionsansatzes. Der Beitrag des Büros Rolf Mühle­thaler akzentuiert den eingeschlagenen Weg, obwohl dieser im Vorfeld kritisiert wurde. Vor dem Hintergrund, dass die Albulalinie oftmals aus Sicht der Zugreisenden betrachtet wird, vermisst man ebenfalls eine Auseinandersetzung mit der dynamischen Abfolge von Tunnelportal und -rohr, bei der auch die Gestaltung der Tübbings aus Beton thematisiert wird.

Die Tunnelerweiterungen bleiben insofern umstritten, als die Rekonstruktionskritik der EKD grundsätzlich «Gebäude, die aus rein wirtschaftlichen Überlegungen abgerissen und in gleichartiger Gestalt, aber bisweilen etwas veränderten Dimensionen sowie infrastrukturell ertüchtigt reproduziert werden» betrifft. Weiter betont der internationale Rat für Denkmalpflege (ICOMOS), dass der aussergewöhnliche universelle Wert (Outstanding Universal Value) dieses Erbes nicht nur in der Linienführung, sondern auch in der Materialität begründet liegt. Zweifellos verliert dieses Argument an Substanz, wann immer eine von Menschenhand geformte Tunnelwand entfernt wird. Deshalb sind sich alle Beteiligten einig, dass die Tunnel der Albulalinie individuell begutachtet werden sollten und eine Erweiterung nur dann geschehen darf, wenn etwa Geschwindigkeitsreduktionen, Gleissenkungen, gleichbleibende Wagenlängen oder die Risikoanalyse zu kurz greifen. Ein kluges Justieren dieser Parameter würde den baukulturellen Diskurs im Umgang mit dem Welt­erbe zweifellos bereichern.

Weitere Informationen, Pläne und Bilder auf competitions.espazium.ch

Eingeladene Teilnehmende

Siegerteam
Rolf Mühlethaler Architekten, Bern

Team Aita Flury
Aita Flury Architektur, Zürich; Schnetzer Puskas, Basel; Raderschallerpartner, Meilen

Team Capaul & Blumenthal
Capaul & Blumenthal Architects, Ilanz; Ingenieurbüro Giachen Blumenthal, Ilanz

Team Pedrazzini Guidotti
Ingegneri Pedrazzini Guidotti, Lugano; Baserga Mozzetti Architetti, Muralto

Fachjury

Bernhard Furrer, Architekt und Denkmalpfleger, Bern; Ruggero Tropeano, Architekt, Zürich; Johannes Florin, Denkmalpflege Graubünden; Matthias Styger, RhB, Site Manager; Clementine Hegner-van Rooden, Bauingenieurin, Oberägeri; Toni Häfliger, Fachexperte Eisenbahndenkmalpflege, Stans

Sachjury

Karl Baumann, RhB, Leiter Kunstbauten (Vorsitz); Paul Loser, RhB, Leiter Tunnel; Christian Florin, RhB, Leiter Infrastruktur (Ersatz)

Thomas Ekwall ist selbstständiger Ingenieur in Basel und deckt in der Tragwerksplanung ein breites Spektrum von Brücken- und Hochbauten in Stahl, Beton und Holz ab.

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