Ab ins Grü­ne! Am liebs­ten vor der Haus­tür

«The new normal» ist, den Homeoffice-Tag ausserhalb der eigenen vier Wände ausklingen zu lassen. Der Entspannungsbedarf stiess während der Corona-Pandemie aber auf ein eingeschränktes Freiraumangebot. Wie sich das urbane Freizeitverhalten in einer Krisenlage entwickelt, wurde wissenschaftlich untersucht.

Publikationsdatum
23-06-2020

Die Farben des Frühjahrs 2020 waren Gelb, Rot und Weiss. Nicht der blühenden Blumen und Sträucher wegen, sondern weil knallbunte Warnmarkierungen die Bevölkerung auf Distanz zu halten versuchten. Kleber am Boden, Verbotsschilder am Zaun und gut verknotete Absperrbänder dosierten den Menschenfluss in den vergangenen Wochen und lotsten Passanten einem Leiterlispiel gleich durch den Siedlungsraum.

Städte und Agglomerationen schlossen ihre Spiel- und Schulhausplätze; auch Parkanlagen, Uferquais und Flaniermeilen wurden abgeriegelt. Viele öffentliche Plätze und Wege, die zu normalen Zeiten ein frei zugängliches und gut besuchtes Naherholungsangebot bilden, wurden als kommunale Ergänzung zum Pandemie-Notrecht des Bundes gesperrt.

Obwohl die Bevölkerung dafür einiges Verständnis aufbrachte, wuchs ihr Wunsch zu Ausflügen ins Grüne. Dem Appell, zu Hause zu bleiben, zum Trotz hielten sich deutlich mehr Menschen in freier Natur und in urbanen Frei- und Grünräumen auf. Den subjektiven Eindruck bestätigt nun eine Umfrage aus Genf und Zürich.

Geografen, Sozialwissenschafterinnen und Landschaftsarchitekten haben die spezielle Ausgangslage genutzt, um das Freizeitverhalten und die Bedeutung lokaler Erholungsräume in Krisenzeiten zu untersuchen. Die repräsentative Befragung der Bevölkerung in den beiden dicht besiedelten Zentren, in denen vier Fünftel in Wohnsiedlungen respektive in einem Mehrfamilienhaus leben, fand auf Anregung zweier Hochschulen in Rapperswil respektive Genf statt.

Zur Entspannung nach draussen

Die Haupterkenntnis daraus ist: Die Leute hielten sich nicht nur in den eigenen vier Wänden auf, sondern gingen ebenso gern und häufig nach draussen. «Frei- und Grünräume halfen bei der seelischen Bewältigung der Coronakrise», werteten die Freizeitforscher ihre Umfrage aus. Auch die Distanz zu den Frei- und Grünräumen spielt eine wesentliche Rolle: Das Angebot unmittelbar vor dem Haus oder im eigenen Quartier wurde häufiger genutzt. «Diese Erkenntnisse bestätigen die Bedeutung der Aussenräume auf Stadtgebiet», ergänzt Forschungsleiter Dominik Siegrist. Die Grünraumplanung sei – auch mit Blick auf die Krisenvorsorge – stärker zu fördern.

Selbst überraschende Antworten stützen den Pandemie-Befund: Obwohl in der Limmatstadt doppelt so viele Leute unmittelbaren Zugang zu einem Innenhof oder Vorgarten besitzen als in der Léman-Metropole, ändert sich der Bedarf an öffentlichen Räumen kaum. Die individuelle Wohnsituation hat «fast keinen Einfluss» auf das Freizeitverhalten der befragten Stadtbevölkerung, erkennt die Zwillingsstudie weiter. Ortsunabhängig wünscht sich die grosse Mehrheit einen Ort zum Entspannen, am besten in Fussdistanz.

Beliebter Wald

Die Freizeit-Umfrage kann weitere Antworten zur Stressbewältigung geben. Balkon und Garten sind die ersten Adressen, um den Kopf durchzulüften. Jeder «leicht erreichbare Frei- und Grünraum» sei jedoch mindestens ebenso willkommen. Und wo in den letzten Wochen der Zugang dazu versperrt war, wich die innerstädtische Bevölkerung auf Zonen am Siedlungsrand aus. In Zürich nahmen die Besuchsfrequenzen in den Wäldern am Uetli-, Käfer- und Zürichberg beträchtlich zu. In Genf waren derweil die Wege und Pfade im Landwirtschaftsgebiet ein beliebter Zufluchtsort.

Zwar deckt die Befragung auch widersprüchliche Präferenzen auf: Am stärksten vermisste die befragte Bevölkerung den Raum für Geselligkeit, weil Ausflugsrestaurants und Picknickplätze geschlossen waren. Im Gegensatz dazu lockten das schöne Wetter und vor allem die Aussicht auf Ruhe, frische Luft und vielfältige Natur viele Stadtmenschen nach draussen. Mitautor Siegrist hofft deshalb, dass Städte dank dieser Erkenntnisse ihre Freirauminfrastruktur und ihre Naherholungsgebiete, wenn nicht schon getan, entsprechend krisentauglicher gestalten.

Quelle: «Bleiben Sie zu Hause. Bitte. Alle. Das Freizeitverhalten der Bevölkerung in Bezug auf Frei- und Grünräume während der Coronakrise in den Kantonen Genf und Zürich». Projektbericht der HSR Hochschule für Technik Rapperswil, Institut für Landschaft und Freiraum ILF und der hepia Haute école du paysage, d'ingénierie et d'architecture de Genève 2020.

 

Verwandte Beiträge