À la Re­cher­che …

Installation «The Lost Space of Stiller» von Markus Seifermann

Lässt sich Identität räumlich konstruieren? Die erstmals im Frühling 2009 an der ETH Zürich gezeigte Installation «The Lost Space of Stiller» des in London tätigen Architekten Markus Seifermann wagt eine räumliche Annäherung an ein Standardwerk der Identitätssuche, Max Frischs Roman «Stiller» von 1954. Die vielschichtige Interpretation soll Besucher und Besucherinnen dazu anregen, vermeintliche Gewissheiten infrage zu stellen – und den Fokus in der Architektur von den Zahlen wieder zu den Menschen zu verlagern.

Publikationsdatum
24-01-2012
Revision
25-08-2015

Die Frage nach Identität ist ein roter Faden im Werk des Zürcher Schriftstellers und Architekten Max Frisch. Sein Roman «Stiller» bildet mit «Homo Faber» (1957) und «Mein Name sei Gantenbein» (1964) eine Trilogie, in der der Autor die Konstruktion der eigenen Identität durch die Beziehung zu seinen Mitmenschen auslotet – und dabei immer den Anspruch erhebt, wandelbar zu bleiben, Unvorhergesehenes zuzulassen. Dieses Moment des Zufalls als Instrument der Erkenntnis steht auch im Zentrum der Installa­tion «The Lost Space of Stiller – eine räumliche Annäherung».1 In seiner Masterarbeit 2005 an der Londoner Bartlett School of Architecture beschäftigte sich der Architekt und Gründer des Londoner Architekturbüros 'Patalab Markus Seifermann mit den räumlichen Bezügen in Frischs Werk, vor allem im «Stiller». Das Resultat waren 13 Collagen, die imaginierte Identitätsmaschinen zeigen. Mit ihnen werden Geschichtskokons geerntet, aus deren Fäden der Stoff für Stillers Geschichtsanzüge gesponnen wird – auch ein Verweis auf den Protagonisten aus «Mein Name sei Gantenbein», der «Geschichten anprobiert wie Kleider»2. Diese Collagen bildeten die physische und theoretische Basis für die Installation «The Lost Space of Stiller», die im Februar 2009 in der Haupthalle der ETH Zürich erstmals gezeigt wurde (weitere Ausstellungen sind für 2012/13 geplant, TEC21 wird berichten). Seifermann machte sich damit daran, Stiller nicht nur mit Identitäten auszustatten, sondern diese zu erforschen.

Raumgreifende Collage

Um sich der breiten Rezeption von Frischs Werk zu entziehen, wandte der Architekt archi­tektonische Methoden an: Er transformierte seine Arbeit vom Plan ins Dreidimensionale. Im Zentrum seiner Installation stehen aber nicht die Handlungsorte des Romans, sondern die zweite Ebene, auf der sich die Geschichte abspielt: die Räume, die sich zwischen den Romanfiguren auftun, die unsichtbaren, aber spannungsvollen Zwischenräume – «das Unsagbare, das Weisse zwischen den Worten» (Max Frisch)3. Um die nötige Distanz zur ­Handlung des Buches aufzubauen, führte Seifermann die Kunstfigur des «identity stalkers» ein: Der Stalker ist auf der Suche nach der wahren Identität von Anatol Ludwig Stiller, die ­Installation ist seine Wohnung. Hier sammelt er akribisch Indizien für Stillers Identität, die er zu einem fassbaren Ganzen zusammenfügen will. Die eigentliche Wohnung bilden vier hölzerne Frachtcontainer, einer davon aufgeplatzt als offene Wohnfläche, auf der Sofa, Fernseher, Teppich und Kronleuchter gruppiert sind. Jede dieser Einheiten erzählt eine Episode der Suche des Stalkers. So kann auch der Kronleuchter im Wohnzimmer mehr als nur leuchten: Eingebaute polierte Türknäufe spiegeln die Gesichter der Besucher, die Spiegelungen werden von im Kronleuchter installierten Kameras gefilmt. Auch die Maschinencollagen aus Seifermanns Abschlussarbeit tauchen wieder auf. Gesammelt in einem transportablen Collagiertisch, verweisen sie auf die Vergänglichkeit vermeintlicher Gewissheiten. In einem der Container befindet sich das Badezimmer. An die Decke gehängt, bilden acht asynchron laufende Rasierapparate die Geräuschkulisse für die gesammelten Darstellungen in der Glasvitrine an der Wand: 18 Barthaarlandschaften in Petrischalen, mit denen der Stalker ein Barttagebuch führt und sich, wie Frischs Protagonist aus «Homo Faber», seiner selbst versichert.4 In der Duschwanne trifft man wieder auf die Impressionen aus dem Kronleuchter: Die von den Kameras gefilmten verzerrten Spiegelungen werden in die Duschwanne projiziert, der Stalker duscht in den Bildern seiner Besucher und eignet sich so Teile ihrer Identität an, bevor er die Bilder durch den Abfluss spült. Ein weiterer Container enthält das Esszimmer. Sechs Puppentorsi sind um eine gedeckte Tafel arrangiert, aber statt Teller und Besteck ist vor jedem Torso ein Fleischwolf platziert. Die Torsi hängen an Fleischerhaken an der Decke und sind gefesselt – wurden hier im Rahmen der Wahrheitssuche Zeugen für Stillers Existenz gefoltert, ihre Körperteile durch den Fleischwolf gedreht? Eine Treppe im dritten Container führt auf den Estrich, aus der Öffnung in der Decke tönen Geräuschfetzen. Ein Plattenspieler graviert hier in einer Endlosschlaufe seine Spuren in den Abguss einer Wachsschallplatte. Mit jeder Umdrehung kratzt die Nadel die aktuelle Wahrheit in das Wachs, ein Trichter überträgt die Botschaft akustisch in die Wohnung des Stalkers.

Synästhetische Spurensuche

Auf seiner Spurensuche bedient sich der Stalker forensischer Methoden. Er durchforstet Schweizer Telefonbücher nach Namensvettern von Stiller, er zerlegt Gedrucktes und dreht die Einzelteile durch seine imaginierten Geschichtsmühlen. Wie ein Könner der Molekularküche zerlegt er seine Funde, um daraus die Essenz von Stillers Identität zu extrahieren. Diese Dekonstruktion kann nicht zum Erfolg führen: Je akribischer der Stalker sammelt, umso nebulöser werden die Grenzen von Stillers Existenz. Oder wie Max Frisch Mitte der 1940er-Jahre in seinen Tagebüchern schreibt: «Wahrheit kann man nicht beschreiben, nur erfinden.»5 Umgesetzt hat Seifermann diese Suche auf verschiedenen Ebenen. Die Eindrücke der Collagen, Geräusche, Bilder und Diaprojektionen verschwimmen zu einem diffusen Gemisch aus Faszination, Ekel und Erotik, und treffen dabei vermutlich genau jenes Gefühl, das den Stalker mit dem Objekt seiner Begierde verbindet. Der Eindruck, der dadurch entsteht, ist suggestiv, irrational, manchmal heiter, oft verstörend. Wie der Stalker seine Indizien, zerlegt Seifermann die Literatur und setzt sie präzise zu seiner «räumlichen Annäherung» neu zusammen. Ersterer benutzt Instrumente wie Lupen, Pinzetten, Mühlen, Rasierapparate, Trichter und Kameras; Seifermann arbeitet mit Entwurfsmethoden der Architektur, setzt Fragmente ein, stellt Collagen her und gebraucht Readymades – ähnlich wie Frisch im 1979 erschienenen «Der Mensch erscheint im Holozän». Diese Medien überlagern sich, ihre (Informations-)Schichten sind kontinuierlich im Fluss und bieten so Raum für den Zufall und neue Erkenntnisse. Nicht die einzelnen ausgestellten Gegenstände stehen im Vordergrund, sondern das, was sich durch deren Kombination im Raum abspielt. Tatsächlich wäre es Seifermann am liebsten, könnte er die Frachtcontainer jeweils an verschiedenen Orten einer Stadt platzieren: Durch eine grössere Distanz käme damit in bester 'pataphysischer Manier mit dem Zeitfaktor eine weitere Ebene hinzu – das, was den Besuchern und Besucherinnen auf dem Weg zwischen den einzelnen Exponaten passiert.

Erinnerungen und Überlagerungen

Mit dem Einbezug des in der Architektur in der Regel fehlenden Phänomens der Zeit, schlägt Seifermann die Brücke zu seinen Referenzen. Als Vorbilder nennt er neben Marcel Proust und den Surrealisten zeitgenössische Werke wie Wilfried Georg Sebalds Roman «Austerlitz» (2001)6 oder Christopher Nolans Film «Memento» (2000)7. Der Schriftsteller und der Filme­macher kreieren in ihren Arbeiten zwischenmenschliche Räume, die mit einer linearen ­chronologischen Abfolge nicht darzustellen wären. Neben den künstlerischen gibt es auch wissenschaftliche Bezüge aus der Neurologie. Die spiegelnden Türknäufe im Kronleuchter stammen beispielsweise aus einer Episode in Oliver Sacks Buch «Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte»8. Darin berichtet der Autor von einer Person mit Identitätsverlust, die nur noch mit Knöpfen, Ringen oder Türknäufen sprach. Der Türknauf zeigte das ­eigene Spiegelbild, aber so verzerrt, dass in der Wahrnehmung der Person tatsächlich der Türknauf kommunizierte.

Offenheit für Interpretationen

Max Frischs Arbeiten räumlich zu interpretieren, erscheint bei genauerer Überlegung fast logisch – und dies nicht wegen dessen Ausbildung und Tätigkeit als Architekt oder der hohen Wertschätzung, die der Autor in Architektenkreisen geniesst. Frischs Romanfiguren sind räumlich angelegt, werden weniger über ihre Handlungen als über ihre Ecken, Kanten und Beziehungen untereinander charakterisiert. Über diese Beschreibungen erschliesst sich das Innenleben von Frischs Figuren.
Sich auf «The Lost Space of Stiller» einzulassen, verlangt Neugier und Unvoreingenommenheit. Dafür werden die Besucher und Besucherinnen mit einer Annäherung an ein literarisches Werk belohnt, die gänzlich ohne Text auskommt. Man kann sich bei der Auseinandersetzung mit der Installation nicht nur festgefahrener Sichtweisen zu Frischs Werk entledigen, sondern erfährt am Ende womöglich mehr über die eigene als über Stillers Identität. Tatsächlich ist die Installation aber auch als architektonisches Statement zu verstehen: gegen festgefügte Vorstellungen von Architektur, gegen einen Rationalismus, der alles mess- und damit vermeintlich beherrschbar gestalten will. «The Lost Space of Stiller» ist ­damit auch ein Plädoyer dafür, sich wieder den Menschen in den Räumen, ihren Fantasien, Hoffnungen, Wünschen und Ängsten zuzuwenden.

Anmerkungen 

  1. Erstmals gezeigt wurde die Ausstellung im Frühjahr 2009 an der ETH Zürich, ein Jahr später war sie in Teilen zusammen mit «The Poet's Garden»  im Architekturforum Ostschweiz zu sehen
  2. Max Frisch, Mein Name sei Gantenbein, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1964 
  3. «Was wichtig ist: das Unsagbare, das Weisse zwischen den Worten, und immer reden diese Worte von den Nebensachen, die wir eigentlich nicht meinen.» Aus: Tagebuch 1946–1949, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1950 
  4. «Ich fühle mich nicht wohl, wenn unrasiert [...]. Ich habe dann das Gefühl, ich werde etwas wie eine Pflanze [...].» Aus: Max Frisch, Homo Faber, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1957 
  5. Max Frisch, Schwarzes Quadrat: Zwei Poetikvorlesungen. Hrsg. von Daniel de Vin, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008 
  6. Wilfried Georg Sebald, Austerlitz, Hanser Verlag, München 2001 
  7. Christopher Nolan, Memento, I Remember / Newmarket Capital Group / Team Todd, USA 2000 
  8. Oliver Sacks, Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte, Rowohlt, Rheinbeck 1988

An der Ausstellung Beteiligte (ETH Zürich, 2009)


Veranstalter
Max-Frisch-Archiv, Zürich


Konzept, Entwurf, Collagen, Exponate
Markus Seifermann, 'Patalab Architecture, London


Planung / Realisation
'Patalab Architecture, London


Toninstallationen
Michael Shaw, London (www.gluerooms.com)


Filme
Dan Farmer, London (www.dan-farmer.com)


Lichtplanung
iGuzzini illuminazione Schweiz AG


Transportkisten
Straehl Holzbau, Tägerwilen
Brunner Holzbau AG, Kreuzlingen

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