Wan­del als Auf­ga­be und Chan­ce

ETH Forum Wohnungsbau 2014

Die Zuwanderung, die Entwicklung der Bevölkerungsstruktur und auch die zunehmend globalisierten Märkte beeinflussen die Schweiz in zahlreichen Belangen, so auch im Wohnungsmarkt. Die 10. Tagung des ETH Wohnforums ist Ende April 2014 Fragen nachgegangen, die aus den zunehmend älter werdenden Bevölkerungsschichten und den aus der Zuwanderung entstehenden Umschichtungen entstehen.

Publikationsdatum
02-05-2014
Revision
25-08-2015

Im Fokus standen zwei Themen: Neue Ansätze für das Leben und Wohnen im Alter und die Auswirkungen der neuen Zuwanderung auf unsere Gesellschaft. Der Wandel sei ein unausweichlicher Prozess und keineswegs ein neues Phänomen, betonte Jonas Lüscher, Schriftsteller und Doktorand der Philosophie an der ETH Zürich in seiner Einführung. Mit jedem Wandel könnten sich die Dinge zum Besseren wenden, müssten aber nicht.

Heute seien es oft vorerst als geringfügig erscheinende technologische Dinge, die zu tiefgreifenden Veränderungen des Alltagslebens führen. Eine stetig zunehmende Bevölkerung führe zu dichteren und urbanen Welten, damit zu sozialer Durchmischung und letztlich zu mehr Verständnis gegenüber andersartigen Lebensweisen, betonte Lüscher. Wandel löse vordergründig betrachtet Probleme aus – besser sei es, von neuen Aufgaben und Chancen zu sprechen.

Wohnen und Leben im Alter

Der demografische Wandel im 20. Jahrhundert in der Schweiz, etwa die höhere Lebenserwartung und die kleineren Familien, betrifft alle. Der Alters- und Generationenforscher François Höpflinger sprach bewusst vereinfacht von einem dritten Lebensalter, nämlich gesund und nicht mehr erwerbstätig, und einem vierten, also hilfs- und pflegebedürftig. Er betonte, dass es künftig zu weiteren Kategorisierungen kommen könne. Sozialbeziehungen im Alter kennen Entwicklungen und Problemfelder.

Altersgerecht Wohnen sei ein schlecht definierter Begriff; besser wäre die klare Aussage zu einem «hindernisfreien» Wohnen. In Kernstädten sind die Angebote für Unterstützung sowie für betreute und begleitete Wohnformen leichter erhältlich als in ländlichen Regionen. Höpflinger warnte vor sozialromantischen Vorstellungen, z.B. bezüglich Durchmischung unterschiedlicher Generationen, die er als wenig zielführend erachtet.

Altern als neue Freiheit

Zwei stark unterschiedliche Ansätze skizzierten die Gerontologin Birgid Eberhard (Tellur GmbH Stuttgart) und Klaus Zitt (medizinischer Leiter einer integrierten Altenpflege im österreichischen Ludesch). Eberhard informierte über die heute vorhandenen Geräte und Steuersysteme, die zu einem unbeschwerten Alltag auch im Alter beitragen können: Smarte Technologien und Assistenzlösungen, die auf technischer Basis das Leben erleichtern und zu mehr Sicherheit führen.

Klaus Zitt zeigte auf, wie in der Region Vorarlberg in neun Gemeinden mit insgesamt 12.000 Einwohnern die integrierte Betreuung und Pflege älterer Menschen mit Erfolg organisiert ist. Grundsätzlich wird dort Menschen im späten Lebensabschnitt die gewohnte Umgebung gewahrt. Flexible und teilstationäre Dienste der Gemeinden verbinden sich mit dem Engagement pflegender Angehöriger. Dauerstationäre Aufenthalte werden damit zur Ausnahme, was einer wichtigen Erfolgskomponente bei der integrierten Altenpflege (IAP) entspreche.

Die Geografie der neuen Zuwanderung

Vor etwas mehr als einem Jahrhundert waren die Bevölkerungsbewegungen in manchen Regionen der Schweiz von der Abwanderung geprägt; seit einiger Zeit überwiegt die Migration, neuerdings durch die Zuwanderung gut ausgebildeter Fachleute. Diese «neuen Zuwanderer» in die Schweiz, so Politikwissenschaftler und Geograf Michael Hermann (Sotomo GmbH, Zürich), unterscheiden sich bezüglich Bildung und ökonomischem Potenzial wie auch bezüglich Lebensorientierung deutlich von den bisherigen Gastarbeitern. Viele stehen für ein urbanes Lebensmodell und haben damit zur Renaissance grosser Städte beigetragen. Dass dies nicht ganz ohne soziale Spannungen vonstatten geht, ist klar.

Wohnraumproblematik benachteiligter Migranten

Von Immigranten wird die Bereitschaft zur Integration gefordert, eine wichtige Voraussetzung des Zusammenlebens ist jedoch eine passende Wohnung. Annalis Dürr (Stiftung Domicil, Zürich) und Cornelia Estermann (Pensima Management, Zürich) versuchten im Gespräch mit zwei Betroffenen die Problematik zu ergründen.

Ein vor Jahren nach Brasilien ausgewanderter Schweizer schilderte die Umstände, die er und seine aus Brasilien stammende Familie bei der Einwanderung in die Schweiz erlebten: Für den Familiennachzug musste er eine Wohnung nachweisen, doch ohne Familie in der Schweiz gestaltete es sich als schwierig, zu einem Mietvertrag zu kommen. Bei einer syrischen Flüchtlingsfamilie waren es vor allem die Sprachbarriere und die veränderten kulturellen Bedingungen, die es zu überwinden galt. Das wurde vor allem über die sozialen Kontakte der Kinder mit den Nachbarsfamilien möglich.

Die beiden Fachfrauen schilderten zudem die Schwierigkeiten bei Umzügen, zum Beispiel von verwitweten Personen aus zu gross gewordenen Wohnungen. Bei Wohngenossenschaften sei ein Wohnungstausch weniger problematisch als bei privaten Hausbesitzern. 

Multilokal Leben – keine Seltenheit

Gemäss einer Studie des ETH Wohnforums nutzen 28% der Schweizer mehr als einen Wohnsitz. Die Bandbreite des Wohnens an mehreren Orten ist gross und umfasst auch informelle Formen, welche in amtlichen Statistiken nicht abgebildet sind. Im Mittelpunkt der Studie standen weniger Kriterien wie z. B. die rechtlich gemeldeten Wohnsitze als vielmehr die tatsächlich gelebten Praktiken des multilokalen Wohnens.

Daher waren z. B. bei der «Art der Nutzung» auch Mehrfachantworten möglich weil diese zusätzlichen Wohnsitze oftmals mehrere Funktionen erfüllen (z. B. Freizeitort, Rückzugsort für die Arbeit, Treffpunkt der Familie). Bei dem gewählten breiten Zugang zum Phänomen sind beispielsweise folgende Formen mit berücksichtigt: ein Ferienhaus, eine zusätzliche Wohnung oder Übernachtungsmöglichkeit am Arbeitsort, die Wohnung einer Partnerin/eines Partners, ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft, ein Sofa bei Freunden, ein Wohnmobil auf dem Dauercampingplatz und dergleichen. Es interessieren also Wohnsitze unterschiedlichster Art die regelmässig genutzt werden und damit eine Bedeutung für die Alltagspraxis der Menschen haben. Aus diesem Grund wurde auch auf ein hartes Definitionskriterium (wie z. B. 60 Übernachtungen jährlich am selben Ort) verzichtet, da dies willkürlich erscheint und wenig über die Bedeutung der Wohnsitze aussagt.

Regierungsrätin Manuela Weichelt-Picard aus Zug und Nicola Hilti vom ETH Wohnforum hinterfragten in einer Diskussion dieses Phänomen. Die Multilokalität, sofern nicht auf die Freizeit bezogen, wird kaum als erstrebenswerter Zustand empfunden sondern als z.B. durch die Arbeitssituation erzwungenen Umstand. Zudem nutzen multilokal Lebende oft grosse Wohnungen an zwei oder mehreren Orten, was einer unwillkommenen Verschwendung von Wohnraum entspricht. 

Flexible Architektur als Forderung für die Zukunft

In seinem Schlusswort stellte Dietmar Eberle, Professor für Architektur und Entwurf an der ETH Zürich fest, dass Bauten oft zu sehr auf bestimmte Nutzungen festgelegt sind und nur schwer neuen Nutzungsformen genügen können. Es gelte darum, Gebäude zukunftsfähig zu machen, indem sie möglichst flexibel nutzbar gestaltet sind, also in einem weiter gefassten Sinn «hindernisfrei» werden. Oft seien Bauten aus den 1960er- bis 1980er-Jahre heute kaum mehr wirklich gebrauchstauglich. Die aktuelle Entwicklung lege dringlich nahe, starre Vorgaben für die Nutzung tunlichst zu vermeiden und künftig intelligentere Lösungen zu suchen und zu realisieren. 

Literatur
Margrit Hugentobler, Elke Wurster: «Zuhause alt werden». Zur Umsetzung von ‹ambulant vor stationär› am Beispiel der Alterspolitik in Schaffhausen.
ETH Wohnforum ETH CASE. Im Fokus Nr. 01/2014
Wohnraum für ältere Leute. Holzbulletin der Lignum Nr. 72 / 2004
Autonomes Wohnen in Gemeinschaft. Age Dossier 2010, age Stiftung Zürich

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