Rück­bau von KKW: Wo steht die Schweiz?

Die ersten Kernkraftwerke sind ohne grossen Aufruhr in Betrieb genommen worden. Die Stilllegung der rund 40 Jahre alten Energieerzeugungsanlagen hat jedoch politische Grabenkämpfe provoziert. Sicher ist: Mühleberg geht 2019 vom Netz. Aber wie geht es danach weiter?

Publikationsdatum
04-12-2014
Revision
18-10-2015

Ein Turm, der fast alle Bauwerke in der Schweiz überragt; daneben eine Kuppel aus fast 2 m dicken, bombensicheren Wänden sowie ein Maschinenhaus mit riesigen Turbinen und Generatoren. Moderne Kernkraftwerke fallen durch ihre räumlichen Dimension in ungewohntem Massstab auf; ihre Bausubstanz ist derart unverkennbar und massiv, weil darin eine schwer ­fassbare Gefahr kontrolliert genutzt werden muss: der Kernreaktor. Die Hauptingredienz, das gespaltene Uran­atom, strahlt mindestens 200 000 Jahre lang für Mensch und Umwelt gefährliche Alpha- und Gamma­strahlen ab. Doch nur für einen Bruchteil dieser ­Spanne ist die sorg- und gefahrlose Nutzung von Nuklear­energie überhaupt möglich.

Der Kernzerfall nagt am Material: Spätestens wenn der Reaktordruckbehälter aus Edelstahl (bis 160 bar) versprödet, ist die technische Lebensdauer von Kernkraftwerken zu Ende. Selbst die Betreiber wissen, dass die nukleare Energieerzeugungsmaschine nicht ad infinitum funktioniert; kein KKW ist für die Ewigkeit gebaut. Würden neue Anlagen errichtet, das Rückbaukonzept wäre bereits vor dem Spatenstich fest eingeplant. Die verwendeten Materialien wären geringer aktivierbar, die festen ­Einrichtungen einfacher demontierbar, die Sperr­zonen kleinräumiger abschliessbar und zudem mehr Flächen im Voraus für die Entsorgungslogistik reserviert. Darauf hat das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat Ensi zumindest hingewiesen, als vor sechs Jahren die Rahmenbewilligungsgesuche für drei Ersatzkernkraftwerke in Gösgen, Beznau und ­Mühleberg eingereicht worden sind.

Diese Vorhaben sind inzwischen sistiert; stattdessen wird nun über die ersatzlose Stilllegung und Rückbau der fünf inländischen Leistungsreaktoren debattiert. In der Energiestrategie 2050 des Bundes bleibt einzig die Frage offen, wann es die Kernkraftwerke abzuschalten und unschädlich abzuwracken gilt (vgl. Kasten unten, «Diskussion über Laufzeiten und Kosten»). Dieser Zeitpunkt sei noch «in weiter Ferne» respektive werde so lang nicht eintreten, «bis der sichere und wirtschaftliche Betrieb nicht länger aufrecht erhalten ­werden kann», erklärt Axpo-Sprecher Tobias Kistner. Nur in Leibstadt und Mühleberg werden Rückbau­termine genannt: «Vor 2045 möchten wir die Anlage nicht ausser Betrieb ­nehmen», hofft Leibstadt-Sprecherin Andrea Portmann. Die BKW AG hat jedoch «unternehmerisch» entschieden, das KKW Mühleberg, die drittälteste ­Anlage der Schweiz, 2019 endgültig stillzulegen. 

Stilllegung Mühleberg planen

Der 372-MWel-Siedewasserreaktor ist dreimal kleiner als die jüngeren Anlagen in Gösgen oder Leibstadt; und im Vergleich dazu fehlt in Mühleberg der Kühlturm. Doch auch so bleibt ein Koloss aus rund 200 000 t Beton, Stahl, Metall und Dichtungsmaterial, der 42 Jahre betrieben werden konnte und dessen Rückbau halb so lang dauern sollte. «Die Arbeiten beginnen unmittelbar nach dem Abschalttermin. Die radioaktiven Quellen werden schnellstmöglich aus dem Reaktor beseitigt», erklärt BKW-Konzernsprecher Tobias Fässler.

Zuerst wird der Reaktorkern ausgeräumt: Die hochaktiven Brennelemente werden zum Auskühlen in ein Abklingbecken verschoben. Aus Sicherheitsgründen werden die Lüftungs- und Filteranlagen weiterhin funktionieren; die Strom- und Wasserversorgung sowie die Über­wachungssysteme bleiben ebenfalls in Betrieb. Fünf Jahre später werden die radioaktiven Strahlungsquellen abtransportiert. 

Solange die Standortsuche für ein geologisches Tiefenlager in der Schweiz läuft, werden alle schwach bis hoch radioaktiven Stilllegungsabfälle in das Zwischenlager Zwilag in Würenlingen gebracht. Exporte zur Abfallentsorgung oder Wiederaufbereitung sind seit 2006 ausgesetzt und werden im revidierten Kernenergiegesetz definitiv ­verboten.

Der Standort Mühleberg wird ab 2024 von den übrigen nu­klearen Anlageteilen befreit, sodass sechs Jahre später Abbruch und Demontage der konventionellen Kraftwerksteile beginnen können. Vier Jahre später soll der KKW-Standort an der Aare aufgehoben sein. Doch wird er ab 2034 wieder grüne Wiese 

«Der Entscheid für eine industrielle oder naturnahe Nachnutzung folgt in den nächsten Jahren», ergänzt Fässler. Der Abschluss des Stilllegungsprojekts wird unabhängig davon im Kernenergiegesetz definiert: Sobald das Areal frei von radiologischen Gefahrenquellen ist, die Strahlendosis Dutzender Radionuklide die Richtwerte einhält, die Bauten kontaminationsfrei sind und Abfälle sachgerecht entsorgt sind, wird die Anlage aus der Aufsichtspflicht entlassen. 

Die Kontrollbehörde Ensi ist aber jetzt schon in die Mühleberg-Planung involviert: Bis Ende Jahr erwartet sie von der BKW ein Konzept für den Abtransport und die Zwischenlagerung des Kernbrennstoffs, inklusive Beschaffung der Transport- und Lagerbehälter. Und zudem hilft eine Begleitgruppe, bestehend aus Ensi, den Bundesämtern für Energie, Umwelt und Raum­entwicklung sowie dem Standortkanton Bern, die ­«pionierhafte Stilllegung des Kernkraftwerks Mühleberg» zu koordinieren.

«Ziel ist ein möglichst effizientes, sicherheitsgerichtetes und zielführendes Bewilligungsverfahren», erklärt David Suchet, Mediensprecher der Ensi. Bis in zwölf Monaten möchte die BKW das offi­zielle Stilllegungsdossier übergeben. Grünes Licht für den Rück­bau gibt der Bund danach per Verfügung, die von der direkt betroffenen Bevölkerung mit Beschwerde angefochten werden kann. Der Blick nach Deutschland zeigt, dass Laufzeit und Kosten politisch umstritten sind, der technische Rückbau aber kaum Widerstand provoziert. 

Referenz-Rückbaustellen in Deutschland

Das nördliche Nachbarland nimmt bei Stilllegung, ­Abbruch und Entsorgung von Kernanlagen eine europäische Führungsrolle ein. Die grössten Rückbaustellen sind das KKW Mülheim-Kärlich am Niederrhein, 1988 stillgelegt und bis 2025 abgeräumt, sowie die Grossanlage in Greifswald mit fünf Leistungsreaktoren – hier läuft die Demontage seit 20 Jahren.

Der Rückbau des 670-MW-KKW Würgassen soll nach 17 Jahren demnächst seinen Abschluss finden. 17 Anlagen sind offline und warten auf baldigen Abbruch. Weitere Stilllegungsprojekte sind aus Spanien, Belgien und Schweden bekannt. «Wir haben die Erfahrungen von 37 Kraftwerken analysiert, davon 22 in Deutschland», erklärt BKW-Sprecher Tobias Fässler. Derweil hat der Energiekonzern Alpiq selbst ein deutsches Rückbau­unternehmen eingekauft. 

Die inländischen KKW-Betreiber sind jedoch gesetzlich gezwungen, sich auf dem Laufenden zu halten: Alle fünf Jahre sammelt der Verband Swissnuclear die aktuellen Angaben zu den anlagespezifischen Stilllegungskosten. Die letzten Daten stammen von 2011; sie beruhen auf einem Standardmodell und Erfahrungswerten aus Deutschland. So wird der Nachbetrieb etwa fünf Jahre dauern; der Rückbau sollte rund zehn Jahre später mit der Entlassung aus dem Kernenergiegesetz beendet sein.

Weitere grundlegende Erkenntnisse sind: Nukleare Hauptbestandteile wie Druckbehälter oder Teile des biologischen Schilds und der Betonhülle ­werden prioritär abgebaut. Der Rückbau von Reaktorkuppel und anderen Sperrbereichen erfolgt frühestens in zehn Jahren, erst aber im ausgeräumten Zustand. Und Siedewasserreaktoren erhöhen den Rückbau-  und Entsorgungsaufwand im Vergleich zum Druck­wasserreaktor. 

Eine alternative Stilllegungsvariante bietet der «sichere Einschluss»: In Deutschland wurden drei Reaktoranlagen nicht sofort zurückgebaut, sondern technisch angepasst und vorläufig stehen gelassen. Die Strahlendosis der Reaktorkomponenten klingt natürlich ab; bis zu 50 Jahre Warten hilft dadurch, den Dekontaminationsaufwand wesentlich zu reduzieren. Obwohl inländische KKW-Betreiber die Einschlusstrategie für preisgünstiger halten, bevorzugt das Ensi den zeit­nahen Rückbau (vgl. Kasten unten, «Internationale Standards»). 

Unabhängig vom Zeitplan verursacht jeder Rückbau sehr viel qualitativ unter­schiedliches Material. Zwar sind nur die Brennelemente hochaktiv. Und insgesamt fallen rund 3 % der Mühleberg-Baumasse in die Kategorie der radioaktiven Abfälle, wofür Zwischenlagerung respektive geologisches Tiefenlager der richtige Entsorgungsweg ist. Doch jedes Kilogramm ­Rückbaumaterial, das dank sorgfältiger Trennung, ­Reinigung oder Dekontamination nicht als radioaktiver Abfall, sondern konventionell entsorgt werden kann, entlastet das Stilllegungsbudget überproportional. Wie viele Reaktorkomponenten als verstrahlt anzunehmen sind, lässt sich aktuell aber nur mit grossen Unsicherheiten abschätzen: Beim Rückbau deutscher Anlagen ist zuletzt aufgefallen, dass der Betonmantel stärker kontaminiert ist als zuvor angenommen.

Und zudem soll der Bewertungsrahmen für die Freimessung strenger werden: Gemäss David Suchet sind die Freigrenzen der Isotopenpalette an inter­nationale Standards anzugleichen; in anderen Staaten werden bis zu 800 Radionuklide erhoben. Swissnuclear hat seinerseits die Kosten für Stilllegung und Entsorgung zwischen 2006 und 2011 um fast 20 % nach oben korrigiert. Und sogar die Entsorgung von freigemessenem Betonabbruch und Stahlschrott kann Probleme bereiten. Anwohner von deutschen Deponien beginnen sich gegen die Ablagerung von unbedenklichen Still­legungsab­fällen zu wehren. 

Viele solcher Details werden an den regelmässigen Fachkonferenzen über die Stilllegung und den Rückbau von Kernkraftwerken diskutiert. In den ­Tagungsprogrammen haben sich weitere, ungewöhnliche Themen etabliert: die Rolle der Fachkräfte, die ihren eigenen Arbeitsplatz aufheben sollen, und die Gefahr eines Know-how-Verlusts, bevor die Anlage ­stillgelegt ist. Auch die BKW ist sich bewusst, dass der Mühleberg-Rückbau mit angemessenen personellen Ressourcen umzusetzen ist. «Wir legen grossen Wert darauf, das interne Know-how für die Stilllegung zu nutzen, und bilden die jetzigen Mitarbeitenden dazu aus», bestätigt Tobias Fässler. Wichtig für Ensi-Ver­treter David Suchet ist zudem, dass die «Zusammenarbeit ­zwischen internem Werkspersonal und externen Spezialisten funktioniert». 

Internationale Standards
Die Aufsichtsbehörde Ensi (Eidgenössisches Nuklear­sicherheitsinspektorat) arbeitet in Stilllegungskommissionen und -arbeitsgruppen internationaler Organisa­tionen mit und hat über den Stilllegungsausschuss der deutschen Entsorgungskommission Einblick in dortige Rückbauprojekte. Bei Bedarf werden ausländische Sachverständige, zum Beispiel TÜV-Süd, für die Analyse inländischer Stilllegungskonzepte beigezogen. Wichtige Umsetzungsstandards stammen von der Western European Nuclear Reculator’s Association (Wenra). Die Stilllegungsrichtlinie des Ensi schreibt deshalb vor, dass der sofortige Rückbau der Kernkraftwerke zu bevor­zugen ist. Sie fordert zudem von den KKW-Betreibern, das Stilllegungsprojekt spätestens zwei Jahre nach endgültiger Ausserbetriebnahme vorzulegen.


Diskussion über Laufzeiten und Kosten
Gegenstand der laufenden parlamentarischen Energiewende-Be­ratungen ist die Laufzeitbeschränkung der Kernkraftwerke. Die Grundsatzfrage lautet: «45 Jahre oder mehr » In vielen Ländern ist eine Betriebsdauer zwischen 50 und 60 Jahre zugelassen. Die Atomausstiegsinitiative der Grünen Partei verlangt die schnelle Abschalt­variante; die Mehrheit im Bundes­parlament tendiert zum längeren KKW-Betrieb und will einen Gegenvorschlag für den nationalen Urnengang präsentieren. Umstritten sind auch Berechnung und Finanzierung der Stilllegungs- und Entsorgungskosten, die grundsätzlich die KKW-Betreiber zu bezahlen ­haben. Für die Stilllegung der fünf Anlagen werden beinahe 3 Mrd. Fr. veranschlagt; die Zwischen- und Endlagerung der hoch- sowie schwach- und mittelaktiven Still­legungsabfälle werden zusätzlich rund 16 Mrd. Fr. kosten. Die Schweizerische Energiestiftung SES kritisiert, dass die Kostenschätzungen weder verlässlich noch ausreichend hoch sind.

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