Ge­ht der Back­stein in die Luft?

Ein Überblick über die Potenziale von Ziegelmauerwerk –vom keramischen Vorhang bis zum tragenden Gewölbe

Dass Ziegelmauerwerk sich nicht hinter Wärmedämmverbund-fassaden verstecken muss, ist längst bekannt. Wie vielfältig das Potenzial des Baustoffs tatsächlich ist, zeigt ein Überblick. Die vorgestellten Beispiele reichen vom Massivbau über den keramischen Vorhang bis hin zu tragenden Gewölbe­konstruktionen. Was darüber hinaus möglich sein könnte, davon geben zwei noch nicht realisierte Projekte einen Eindruck.

Data di pubblicazione
15-01-2012
Revision
01-09-2015

Es scheint wie eine Szene in einem Science-Fiction-Film: Vollautomatisch programmierte Mini­hubschrauber greifen sich ziegelsteingrosse Module und türmen sie wie von Geisterhand zu einer 6 m hohen, röhrenartigen, visionären Megastruktur im Miniaturformat auf. Weshalb berührt uns das Bild des an einem «Quadcopter»1 hängenden Modul­steins so sehr? Es stellt alles auf den Kopf, was wir mit Mauerwerk verbinden: Masse, Tektonik, Tradition, vor allem aber den Massstab. Hat sich nicht vor fast 10 000 Jahren das Normformat der Ziegel aus der Grösse der menschlichen Hand entwickelt? Die vollautomatische robotische Fertigung spielt in der Praxis heute noch keine Rolle. Welchen Gestaltungsspielraum Sichtmauerwerk bietet, zeigen dagegen zahlreiche heraus­ragende Beispiele. Die Erfolgsfaktoren liegen dabei, so scheint es, in der konsequenten Entwicklung von Kleinserien und der sorgfältig abgewogenen Mischung aus Handarbeit ­einerseits und Vorfertigung andererseits – also sowohl in traditionellen Methoden als auch in innovativen Material- und Fertigungstechnologien. 

Einfach massiv 

Traditionell von Hand versetztes massives Ziegelmauerwerk kann auch heute noch wirtschaftlich realisiert werden, wie das Beispiel der Mittelpunktbibliothek in Berlin-Köpenick zeigt. Voraussetzung dafür ist, dass einerseits keine bautechnisch problematischen Anschlüsse zu bewältigen sind und andererseits die seismologische Einstufung des Grundstücks gering ist. Für die Süd-, Ost- und Westfassade der 2009 fertiggestellten Bibliothek wählten die Berliner Architekten Bruno Fioretti Marques eine massiv gemauerte, 64 cm dicke fünfköpfige Aussenwand (vgl. TEC21 18/2009), die damals gültige Energiesparverordnung (EnEV) konnte durch eine stärkere Wärmedämmung der Nordfassade und des Dachs als Ausgleichsmassnahme eingehalten werden; den aktuellen und den künftigen Vorgaben der EnEV entspricht der ­Aufbau jedoch nicht mehr. Um den Neubau in das historische Backsteinensemble am Alten Markt in Köpenick einzubinden, wählten die Architekten das vor Ort verwendete Reichsformat 250 × 120 × 65 mm. Der unregelmässige, «wilde» Mauerwerksverband verstärkt den archai­schen Charakter einer mittelalterlichen «Wissensburg». Nur die an der Fassade sichtbare Ziegellage besteht aus Steinen mit scharfen Kanten. Das innere der Massivwand ist aus kos­tengünstigeren Ziegeln geringerer Oberflächenqualität gemauert, die zu den Innenräumen hin weiss geschlämmt sind. 

Scheinbar massiv 

Umfasst das architektonische Konzept grossformatige Öffnungen, Auskragungen oder Brückenkonstruktionen, überwiegen die Vorteile einer Stahlbetonkonstruktion mit vorgehängter Ziegelhülle. Doch wie lässt sich diese gestalten, um der Wirkung von massivem Mauer­werk so nahe wie möglich zu kommen? Beim Dominikuszentrum im Norden Münchens fasste der Architekt Andreas Meck Platzbelag, Deckenuntersichten und Fassaden mit Klinkern im ­Format 200 × 115 × 61.5 mm zu einer Einheit zusammen. Als Bodenbelag ist der Ziegel hochkant gestellt, an den Decken der Durchgänge sind die Steine als 14 mm ­dünne Riemchen in Betonfertigteile eingelegt und bilden mit durchlaufenden Fugen eine modulare Bekleidung. Die vorgeblendete Fassade ist dagegen im Verband gemauert und vermittelt den Eindruck eines Massivbaus: Vertikale, durchlaufende Dehnfugen treten nur in grossen Abständen auf. In Breite und Oberfläche – das dunkle Silikon ist mit Sand bestreut – gleichen sie den Mörtelfugen. Der «Wittmunder Torfbrandklinker» und die Durchmischung von Ziegeln unterschiedlicher Textur, besonders die hervorstehenden gekrümmten Ziegel oder «Gurken», verleihen dem Neubau den Charme von gealtertem Mauerwerk und geben dem Auge Halt auf den weiten Flächen – dieses Motiv hatte Alvar Aalto bereits 1949 bei seinem Baker House in Cambridge eingesetzt. Im traditionellen Ringbrandofen wird das Torffeuer im Kreis über die Ziegel hinweggeführt, anstatt die Lehmziegel gleichmässig durch den Ofen zu fahren. So werden die obersten Ziegellagen wesentlich höheren Temperaturen ausgesetzt als die unteren. Sie verformen sich unkontrolliert und werden üblicherweise aussortiert. 

Wärmedämmendes Hybridmauerwerk 

Das Mauerwerk des Kolumba-Museums in Köln von Peter Zumthor ist massiv gemauert, kommt ohne zusätzliche Wärmedämmung aus und trägt dennoch nicht die Geschossdecken, sondern nur sich selbst (vgl. TEC21 48/2007). Das Prinzip der Verzahnung grossformatiger wärmedämmender Hochlochziegel auf der Raumseite mit kleinen Formaten als Aussenhaut ist jedoch keine Neuerfindung: Vitruv kannte solche Hybridmauerwerke als «Eplekton», die Architekten Burkard Meyer hatten sie 1997 beim Schulhaus Brühl in Gebenstorf und 2004 beim Mehrfamilienhaus Martinsbergstrasse in Baden eingesetzt. Um den hohen Dämmziegel und den flachen «Kolumbaziegel» im Format von 540 × 90 bzw. 210 × 37 mm aufeinander abzustimmen und durchlaufende Dehnfugen zu vermeiden, mussten Ziegel und Mörtel als elastisches Gesamtsystem neu entwickelt werden.  Das transluzente «Filtermauerwerk» im Bereich des archäologischen Grabungsfeldes ­besteht dagegen aus einer zweischaligen Membran aus 160 mm breiten Kolumbaziegeln. Der unregelmässige, gewebeartige Lichtfilter aus vielen kleinen Öffnungen entsteht durch das Weglassen einzelner Ziegel. 

«Pullovermauerwerk» als Fertigteil 

Das Wechselspiel aus geschlossenen und perforierten Mauerwerksabschnitten kann auch mit weniger Aufwand realisiert werden. Beim Neubau des Zentrums für Alterspsychiatrie der Klinik St. Pirminsberg in Pfäfers sollte das einheitliche Erscheinungsbild eines klaren Bau­körpers dominieren, und funktionale Elemente wie Öffnungsflügel, Loggien, Dachterrassen sollten hinter dem Schleier einer Ziegelmembran verborgen bleiben. Dabei bietet das perforierte Mauerwerk praktische und psychologische Vorteile: Es wirkt als Absturzsicherung vor den Öffnungen, ohne den Eindruck des Eingesperrtseins zu vermitteln. Im Gegensatz zu ­Kolumba streben huggenbergerfries Architekten aus Zürich eine klare Gliederung der Fassaden an: Die geschosshohen, vorgefertigten Elemente wurden im Werk von Hand aufgemauert und mit vertikalen Bewehrungsstangen in den zylinderförmigen Aussparungen der einzelnen Ziegel gesichert. Sie konnten so auch für den Transport stabilisiert werden. An der Ober- und Unterseite sind sie von Betonfertigteilen eingefasst. Die prismatische Textur entsteht durch die abgeschrägten Vorderseiten der in zwei Formaten eigens für das Projekt entwickelten, hellgelben Ziegel – auf einen längeren Stein folgt jeweils ein kürzerer. Bei den perforierten Feldern wird nur der längere Ziegel eingesetzt, der Platz für den kürzeren bleibt ausgespart. Die Trapezform des Steins ergibt sich aus den Anforderungen. Nach aussen dient er der von Holzschindeln inspirierten Fassadengestaltung. Um die Ziegel beim Aufmauern exakt posi­tionieren zu können, bilden die Innenseiten eine ebene Fläche.

Geschwungener Ziegelvorhang 

Das kleine Format des Ziegels ermöglicht nicht nur ornamentale Muster und feinmaschige Öffnungen, die – ganz im Sinne Gottfried Sempers – an Gewebe erinnern. Ziegelwände ­eignen sich auch hervorragend, um gewellten Grundrisslinien zu folgen und sich so selbst auszusteifen.  Nur mit der in Grundriss und Ansicht geschwungenen Aussenwand versetzen Königs Architekten aus Köln ihre Kirche in Schillig – an der deutschen Nordseeküste – scheinbar in Bewegung. Der lokale Bockhorner Klinker wurde in einem zweiten Brand unter Sauerstoffentzug «gedämpft», um eine dunklere Farbe anzunehmen. Am schmalen Hochpunkt konnte die scharfkantige Hülle nur als Betonfertigteil mit Klinkerriemchen realisiert werden. 

Membranartige Gewölbe 

Mit ein- und zweifach gekrümmten Flächen lassen sich unterschiedliche Arten von Gewölben mauern. Eine in Vergessenheit geratene, jedoch äusserst effiziente Spielart ist das «Guastavino»- oder «Katalanische» Gewölbe: Mehrere Lagen aus flachen Keramikfliesen sind übereinander mit versetzten Fugen vermörtelt und folgen dem Verlauf der Gewölbekrümmung. Gemeinsam mit den Tragwerksplanern John Ochsendorf, Cambridge, Massachusetts, und Michael Ramage, Cambridge, England, arbeitet der südafrikanische Architekt Peter Rich, Johannesburg, an zeitgemässen Anwendungen. Bei seinem Mapungubwe Interpretation Centre im gleichnamigen Nationalpark in Zimbabwe kommen die Vorteile der Bauweise zum Tragen. Durch den minimalen Verbrauch an Ressourcen und den Einsatz ­einfachster technischer Hilfsmittel realisierte er ein kulturelles, ökologisches und soziales Anschauungsprojekt: Angelernte Arbeitslose der ortsansässigen Landbevölkerung gruben den Lehm vor Ort aus der Erde, pressten ihn zu über 200 000 Platten und mauerten die ­Gewölbe im Freivorbau unter Zuhilfenahme von einfachsten Gerüsten. Die Ziegeldome ­korrespondieren zudem formal mit den historischen Steinkreisen der einst dort ansässigen Kultur.

Massiv und gleichzeitig transluzent 

Die Übergänge zwischen dem massiven und membranartigen Erscheinungsbild von Ziegelbauten können durchaus fliessend sein. Peter Zumthor realisiert dies bei Kolumba mit einer selbstverständlichen, archaischen Architektursprache. Herzog & de Meuron dagegen versuchen, diese Ambivalenz bei ihrem 64.5 m hohen, pyramidenförmigen Turm des Tate Modern Project in London mit einer spektakulären, irritierend skulpturalen Architektur herzustellen: In abgestuften horizontalen Läuferlagen wird die scharfkantige Geometrie der geneigten ­Flächen der Gebäudehülle «verpixelt» aufgelöst. Der perforierte Ziegelschleier ist mit Edelstahldübeln vor eine Betonunterkonstruktion gehängt. Er soll das Licht bei Tag filtern und bei Nacht den Baukörper «erglühen» lassen. Die Unterkonstruktion besteht aus Betonfertig­teilen, die wiederum vor das Tragwerk in Stahlbeton gehängt sind. Inwieweit es den Architekten gelingen wird, diesen innovativen Erweiterungsbau mit der bestehenden Tate Modern in der ehemaligen Bankside Power Station – einer der monumentalsten Baumassen aus Mauerwerk – zu einer Einheit zu verschmelzen, bleibt abzuwarten. 

Anmerkung

  1. Als Quadcopter bezeichnet man Luftfahrzeuge, die vier in einer Ebene angeordnete, senkrecht nach unten wirkende Rotoren oder Propeller nutzen. Die Maschinen können senkrecht starten und landen. Vorteil ist, dass alle drei Achsen allein durch Variation der Drehmomente der Rotoren angesteuert werden. Aufwendige Taumelscheiben wie bei einem Hubschrauber sind nicht erforderlich
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