SIA: Ge­nos­sens­chaft vs. Bau­gruppe

Wohnungsnot und veränderte gesellschaftliche Bedürfnisse stellen Städte vor Herausforderungen. Wie unterschiedlich die Akteure in der Schweiz und in Deutschland damit umgehen, beleuchtete eine vom SIA initiierte Diskussion Ende Juni in Berlin.

Date de publication
08-07-2015
Revision
05-11-2015

In vielen europäischen Städten zeigen sich ähnliche Tendenzen: Die Bevölkerung wird älter, die Gesellschaft differenziert sich aus, und die Wohnbedürfnisse verändern sich. Vor diesem Hintergrund seien «zukunftsträchtige, innovative Wohnformen gefragt», sagte SIA-Präsident Stefan Cadosch auf der Veranstaltung «Neue Wohnformen und urbane Qualität» in der Schweizerischen Botschaft in Berlin. 

Ausgangspunkt der Debatte war das Mehrgenerationenhaus «Giesserei» auf dem ehemaligen ­Sulzer-Gelände in Winterthur, das 2013 vom SIA mit dem Auszeichnung «Umsicht – Regards – Sguardi» prämiert worden war. Das Gebäude, eine energetisch optimierte Holzkonstruktion mit 155 Wohnungen, entstand auf Initiative eines Vereins engagierter Bürgerinnen und Bürger und wurde unter dem Dach der gemeinnützigen Genossenschaft für selbstverwaltetes Wohnen ­(Gesewo) realisiert.

Der «Giesserei» gegenüber stellte Moderator Frank Peter Jäger vom SIA ein Haus mit 22 Wohnungen im ­Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg, das die Baugruppe «Shared Space» errichtet hat. Unter dem in der Schweiz kaum bekannten Modell der Baugruppe versteht man in Deutschland einen Zusammenschluss privater Bauherren, die gemeinsam ein Wohnprojekt rea­lisieren. Die Wohnungen gehen dabei – anders als beim genossenschaftlichen Ansatz – ins Einzeleigentum der Bauherren über (in der Schweiz würde man von Stockwerkeigentum sprechen). «Die Baugruppe», sagte Friedrich May, Mitbegründer von «Shared Space», «ist schon ein anderes, eher bürgerliches Modell.» In Deutschland steht es für bürgerschaftliche Teilhabe an der Stadt. 

Während die Architekten der Baugruppen in der Regel die individuellen Wohnwünsche der künftigen Bewohner sehr detailliert umsetzen, tauschten sich im Fall der «Giesserei» die Planer von Galli Rudolf Architekten zwar intensiv mit der Baukommission in Vertretung der Bauherrenschaft aus, nicht aber mit den einzelnen Mietparteien. «Basisdemokratie», so Architekt Andreas Galli, «funktioniert nicht mit 155 Parteien.»

Hier Genossenschaften als Träger innovativer Wohnkonzepte, dort eigentumsorientierte Baugruppen – das ist nicht der einzige Unterschied zwischen Deutschland und der Schweiz. Deutlich machte die Veranstaltung vielmehr auch, wie sehr sich die politischen und rechtlichen Rahmenbedingungen unterscheiden. So verfügt die deutsche Hauptstadt über einen grossen ­eigenen Wohnungsbestand: Gut 300.000 Einheiten, fast ein Sechstel aller Wohnungen, gehören den sechs kommunalen Wohnungsbaugesellschaften. Dies bietet der Stadt die Möglichkeit, direkten Einfluss auf die Höhe der Mieten und die ­Wohnungsvergabe zu nehmen. Unüblich ist in Berlin hingegen die Vergabe von Grundstücken im Baurecht, mit der Schweizer Städte gern arbeiten.

Ein weiterer Unterschied: Während Mark Würth, Leiter Stadt­ent­wick­lung Winterthur, feststellte, dass «das knappste Gut das Land ist», verfügt Berlin als Folge seiner Geschichte über zahlreiche freie Grundstücke. Platz gibt es also genug, um das Ziel des Berliner ­Senats zu erreichen, jährlich mindestens 10.000 Wohnungen zu errichten und so der sich verschärfenden Knappheit auf dem (vor wenigen Jahren noch entspannten) Wohnungsmarkt der wachsenden Stadt zu begegnen. 

Doch wie steht es um die Qualität dieser Bauvorhaben? «Giesserei»-Planer Galli kritisierte, dass die Baugruppenprojekte ohne Architektenwettbewerb realisiert werden – anders als in der Schweiz, wo Wohnbaugenossenschaften meist auch bei kleineren Vorhaben einen Wettbewerb durchführen. «Man muss den Markt öffnen für neue Ideen», argumentierte Galli. «Es ist nicht so, dass wir in Berlin nicht interessiert wären an innovativen Wohnformen», verteidigte sich Dirk Böttcher von der Wohnbauleitstelle der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und verwies auf den Wettbewerb «Urban Living», in dem neue Formen des städtischen Wohnens gesucht wurden. Die Baugruppenprojekte allerdings scheinen einen eher geringen Innova­tionsgehalt zu haben, wie Ralf Niebergall, Architekturprofessor und Vizepräsident der Bundesar­chitektenkammer, anmerkte: Eine Studentin von ihm, die ihre Masterarbeit über Berliner Baugruppen schrieb, habe enttäuscht festgestellt, dass diese keine wirklich neuen Bautypologien entwickelt hätten.

Eine Aussage von Mark Würth aus Winterthur indes dürfte Konsens sein: «Man muss private Initiativen ernst nehmen. Denn je vielfältiger solche Initiativen sind, desto vielfältiger wird am Ende die Stadt.» 

Der Anlass war die erste Auslandsstation der Auszeichnung «Umsicht» und fand in Partnerschaft mit der Schweizerischen Botschaft Berlin und der Bundesarchitektenkammer statt.

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