«Es ist nicht ein­fach, et­was zu zei­gen, das schon da ist»

Der Beitrag der Schweiz zur diesjährigen Architekturbiennale Venedig heisst «Neighbours». Er macht den Schweizer Pavillon selbst – und seine Ver­schränkung mit dem venezolanischen Nachbarn – zum Exponat: Die Öffnung einer Mauer ermöglicht es, vergessene Perspektiven wiederzuentdecken. Ein ­Gespräch über Einsichten im wörtlichen und im übertragenen Sinn.

Date de publication
05-05-2023

TEC21: Frau Sander, Herr Ursprung, Sie kuratieren die Ausstellung im Schweizer Pavillon an der Architekturbiennale Venedig 2023. Dabei thematisieren Sie die Architektur des Pavillons und insbesondere seine Beziehung zum Nachbargebäude – zunächst architektonisch, aber auch darüber hinaus. Worum geht es?

Karin Sander: Unser Beitrag stellt die zwei Gebäude und deren unmittelbare Nachbarschaft in den Mittelpunkt: den von Bruno Giacometti entworfenen Schweizer Pavillon und seinen Nachbarn, den venezolanischen Pavillon, entworfen vom venezianischen Architekten Carlo Scarpa. Dieses gebaute Ensemble, also beide Gebäude und ihre Gärten, werden in unserer Ausstellung selbst zum Exponat, wenngleich auch beide in ihrer repräsentativen Funktion getrennte Ausstellungen zeigen.

Philip Ursprung: Scarpa und Giacometti kannten sich und tauschten sich aus. Davon zeugt auch Scarpas 1954 realisierter Entwurf, der sich als Antwort auf Giacomettis Architektur verstand: Die beiden Pavillons stehen nicht einfach nur nebeneinander, sie sind ineinander verschachtelt und ergeben eine gemeinsame Figur, teilen sich gleichsam den Grundriss (vgl. Plan in der Bildergalerie).

-> «Neighbours» – Schweizer Pavillon, 18. Internationale Architekturausstellung, La Biennale di Venezia

Eine innige Nachbarschaft auf einem Ausstellungs­gelände, das sonst von Einzelbauten geprägt ist.

Sander: Ja, sie teilen sich sogar eine Mauer, und die Aussenbereiche sind miteinander verbunden, sie gehen ineinander über. Rund zwei Jahrzehnte später – irgendwann nach Ende der 1970er-Jahre, aber vor 1984 – wurde eine Mauer zwischen den beiden Pavillongärten gezogen. Die räumliche Beziehung wurde unterbrochen und geriet in Vergessenheit. Ich bin darauf gestossen, weil ich es befremdlich fand, dass die Pavillons doppelt getrennt waren, sowohl durch ein Gitter als auch durch eine Mauer parallel dazu. Wenn es ein Gitter gab, warum brauchte es dahinter noch eine Mauer? Wir fanden also heraus, dass die Mauer nachträglich errichtet wurde und von Scarpa dort nicht vorgesehen war. Diese Erkenntnis weckte unsere Neugier auf Scarpas Architektur. So entstand die Idee, diese ineinandergesteckten Entwürfe und ihre besondere Nachbarschaft zu thematisieren und den Schweizer Pavillon zu seinem Nachbarn hin wieder zu öffnen.

Das Ausstellungsprojekt haben Sie gemeinsam entwickelt, mit einem interdisziplinären Zugang als Künstlerin bzw. Kunst- und Architekturhistoriker. Was hat Sie zu dieser Methode bewogen?

Ursprung: Die Idee, die Beziehung des Schweizer Pavillons zu seinem Nachbarn zu untersuchen, kam von Karin, und ich fand sie äusserst interessant. Ich dachte, ich kenne den Schweizer Pavillon gut, doch ich hatte nie bemerkt, wie seltsam diese Mauer ist und wie sensibel die Stelle, an der sie steht: Dazu hat es ihren offenen, unvoreingenommenen Blick als Künstlerin gebraucht. In der Lehre arbeiten wir seit langem zusammen. Unser gemeinsames Thema ist die Frage, welche Rolle die Kunst in der heutigen Architektur spielt oder spielen kann.

Sander: Als ich an der ETH anfing, hiess meine Professur «Grundlagen des Gestaltens» – heute heisst sie «Architektur und Kunst». Es geht mir darum, das Spannungsfeld zwischen Architektur und Kunst als Verbindendes zu begreifen und dabei immer wieder den Funken überspringen zu lassen. Man könnte auch sagen – und das verbindet die Arbeit von Philip und mir an der ETH –, dass wir immer wieder für einen Luftaustausch zwischen zwei getrennt gedachten Kammern sorgen. So spiegeln wir architektonische Praktiken, was auch auf unseren Beitrag auf der Architekturbiennale zutrifft. Das Denken der beiden Disziplinen ist unterschiedlich, doch es gibt Bereiche, wo sie zusammenkommen und sich gegenseitig aufladen können.

Ursprung: Die Architektur hat heute keine eigentliche Theorie. Deren Funktion übernimmt die Kunst: Sie ist ein Feld des Testens und der Möglichkeiten, wo die architektonische Praxis reflektiert werden kann. Angehende Architektinnen und Architekten sollten sich unbedingt mit Kunst befassen – und zwar nicht, um Gestaltungstechniken oder sonstige Fertigkeiten zu erwerben, sondern um zu lernen, aus einer anderen Perspektive zu sehen und zu denken.

Wie reagieren die Studierenden auf diesen Ansatz? Das klassische Vehikel der Theorie ist doch eher der Text?

Ursprung: Ich sehe ein zunehmendes Interesse an der künstlerischen Praxis – als ob dort etwas wäre, was den heutigen Architekturstudierenden fehlt, was sie anderswo nicht finden. Es zeigt, dass die Kunst für die heutige Architektur eine neue Bedeutung bekommen hat: als Schule des Schauens, Reflektierens und Verstehens.

Sander: Das Ziel ist nicht, die Studierenden dazu anzuhalten, Kunst zu simulieren oder Kunst im Sinne von dinglichen Artefakten herzustellen. Es geht vielmehr darum, ihnen durch die Auseinandersetzung mit Kunst komplexe, reflektierende Kom­petenzen zu vermitteln, sodass sie eine Sensibilität für ihre Umgebung entwickeln und sich mit Fragestellungen beschäftigen, die über die architekto­nische Gestaltung hinausreichen. Es geht um ein Verständnis der gesellschaftlichen Situation, um ein Erkennen des eigenen Vorstellungsrahmens, um das Finden und Einsetzen der richtigen Mittel.

Ursprung: Kunst und Architektur sind Nachbarn. Sie sind nicht identisch und wir wollen sie nicht verschmelzen, aber sie haben Überlappungen, Affinitäten und Differenzen, die man stärker zur Kenntnis nehmen sollte. Es ist gut zu wissen, dass hinter der Mauer jemand ist. Dann kann der Funke überspringen.

Wie bei den beiden Biennale-Pavillons?

Ursprung: Genau. Sie sind zusammengewachsen, aber wir sind gewohnt, sie gesondert zu betrachten. Seit Jahrzehnten hat niemand eine andere Perspektive eingenommen, bis der Blick der Künstlerin sie wieder geöffnet hat. Jetzt kann man anders über Nachbarschaft nachdenken, in jeder Hinsicht.

Sander: Es ist nicht einfach, etwas zu zeigen, das schon da ist und von dem alle denken, dass sie es schon kennen.

Worin besteht die Intervention im bzw. am ­Schweizer Pavillon konkret?

Sander: Wir öffnen den Schweizer Pavillon zu seinem Nachbarn, indem wir ein Stück der Umschliessungsmauer abtragen, sodass die beiden Pavillons wieder als Ensemble lesbar werden. Die abgetragenen Ziegelsteine wiederum werden dazu benutzt, im Skulpturengarten Sitzmauern zu bauen, deren Volumen in etwa dem des Abbruchs entspricht. Das heisst: Wir generieren das Material vor Ort und inszenieren es neu. Nach der Biennale werden die Steine für den Wiederaufbau der Mauer wieder eingesetzt. Durch die temporäre Öffnung der Mauer entstehen neue Sichtachsen, die um 1980 zusätzlich gebaute Mauer auf venezolanischer Seite wird freigestellt, und die Gitter, die den Schweizer Innenhof verschliessen, werden ausgebaut. Gleichzeitig denken wir die Architektur weiter: Der Schweizer Pavillon zeigt sich in all seinen Funktionen, nicht nur als Ausstellungsort, sondern auch als Bühne für das Biennale-Geschehen. Was während der Ausstellung gebraucht wird, bleibt anwesend. Alle Eingriffe sind transparent und nachvollziehbar. Das ist die Ausstellung.

Ursprung: Die Gattung Architekturausstellung ist höchst spannend: Wie kann man über die aktuell vorherrschende Konvention, die die Pavillons als neutrale Behälter betrachtet, hinausgehen? Durch unsere temporären Eingriffe stellen wir die Ausstellungsarchitektur selbst aus. Wir spielen mit offenen Karten, um die Besucherinnen und Besucher in die Lage zu versetzen, die Räume weiterzudenken. Dem architektonischen Zusammenhang, der ausgeblendet ist, wenn man ihn nur als Hintergrund betrachtet, wollen wir wieder eine Stimme geben. Giacomettis architektonisches Schaffen ist noch kaum erforscht, im Gegensatz zu Scarpas Werk – wobei der venezolanische Pavillon zu den eher wenig untersuchten Bauten gehört.

Sander: Bemerkenswert ist zum Beispiel auch, dass Giacometti die Umfassungsmauern des Schweizer Pavillons aus Ziegelsteinen mauern liess. Er bezog sich auf eine typisch venezianische Mauerung, die jedoch eher für unsichtbare Rück- oder Hofmauern eingesetzt wurde – im Gegensatz zu den verzierten und verputzten Mauern zum öffentlichen Raum hin. Wir rücken die Hülle in den Vordergrund und konfrontieren die Menschen mit ihren Erwartungen.

Ursprung: Es ist ein analytischer Zugang, der ortsspezifisch vorgeht und das Bestehende artikuliert, das Vorhandene sichtbar macht.

Nicht nur die räumliche Beziehung zwischen dem Schweizer und dem venezolanischen Pavillon hat sich mit den Jahren verändert, auch das Verhältnis der beiden Länder. Wie situiert sich Ihre Intervention in diesem Spannungsfeld?

Ursprung: Unsere Intervention, die sich mit der Mauer als Störung befasst, wird selbst zu einer Störung, indem sie den Blick auf die Beziehung zwischen der Schweiz und Venezuela lenkt. Sie ist ein Stein des Anstosses und löst vielleicht etwas aus. Die zwei Länder sind sehr verschieden. Venezuela ist heute ein autoritäres Regime, das Land ist verarmt und international weitgehend isoliert. In der heutigen politischen Situation ist eine Kooperation über die Grenzen der benachbarten Pavillons nicht möglich, Pro Helvetia darf nicht mit dem venezolanischen Kulturministerium zusammenarbeiten und wir nicht mit dem dortigen Kuratorenteam. Das können wir nicht ändern, aber wir können darauf hinweisen.

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 14/2023 «Nachbarn über Kontinente».

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