Für eine Zim­mers­tunde im Lär­chen­wald

Passt eine wohlgeformte Architektur in die wilde Natur? Ja durchaus, wenn die vorgefundene (Un-)ordnung respektiert wird. Die Architekten Ramun Capaul und Gordian Blumenthal ergänzen die Cluozza-Hütte im Schweizer Nationalpark mit einem in sich ruhenden Turm.

Date de publication
13-12-2022

Der Nationalpark liegt am äussersten Südostrand der Schweiz. Für die einheimische Pflanzen- und Tierwelt ist das 170 Quadratkilometer weite Grenzland dennoch zentral. Auf einer Fläche so gross wie der Kanton Appenzell Innerrhoden dürfen sich seltene und verdrängte Arten wieder frei bewegen und ungestört ausbreiten.

Zu verdanken ist die Wildnis politisch einflussreichen Naturfreunden, die vor über 100 Jahren den Schutz der Berglandschaft zwischen S-chanf, Scuol und dem Münstertal beantragten. Bis heute ist darin eine einzigartige, natürliche Rückeroberung zu beobachten: Auf damals kahlen Hängen wachsen mächtige Bergföhren. Und wo die Waldvegetation bereits Jahrhunderte ungestört ist, leuchten im Herbst goldgelbe Lärchen, denen die robustere, immergrüne Arve aber den Platz streitig macht.

Bei allem Respekt vor diesem wilden Refugium: Immer noch greift der Mensch aktiv in die Idylle ein, etwa um Steinbock, Bartgeier oder andere Tiere auszuwildern. Zudem wissen die Nationalparkwächter dank heimlicher Fotofallen sehr genau, wie sich grosse und kleine Wild- und Raubtiere durch die Seitentäler im Unterengadin bewegen.

Eine 112 Jahre alte Hütte

Auch der Mensch behält sich darin einen Rückzugsort vor. Wildbiologen und Wanderfreunde finden auf 1900 m ü. M. eine Unterkunft für Exkursionen oder Touren im zweitältesten Nationalpark Europas. Drei Laufstunden von Zernez entfernt liegt die Chamanna Cluozza, eine der am meisten frequentiertesten Berghütten Graubündens.

1910 wurde der Kern des zweistöckigen Gebäudes erstellt. Erst vier Jahre später erklärte der Bund die Umgebung zum Reservat, so dass der Lärchenwald selbst als Baustoffreservoir genutzt werden durfte. Derselbe Wunsch stiess allerdings auf taube Ohren als vor knapp drei Jahren ein Wettbewerb zur Erweiterung der Hütte durchgeführt wurde. Die siegreichen Architekten schlugen ihrerseits vor, dafür lokale Baustoffe zu nutzen. Doch weil der geschützte Nationalpark selbst dafür nichts mehr hergeben kann, schlug die Direktion vor, Bäume aus den Nutzwäldern der vier Parkgemeinden zu schlagen.

Seit diesem Frühjahr wacht nun ein Turmhaus aus Lärchenholz über die 112 Jahre alte Cluozza-Hütte. Es ist das neue Domizil für die Hüttenwartsfamilie und Freiwillige, die den Sommerbetrieb unterstützen. Der Neubau ist drei Geschosse hoch, aber nur 5 Meter breit und lang. Dass die Nationalparkoberen ausnahmsweise gestatteten, zwei Bäume für den bescheidenen Neubau zu entfernen, darf als Glücksfall betrachtet werden.

Fortsetzung der Strickbautradition

Die Chamanna ruht auf einer bewaldeten Geländeterrasse; mehrere gleichaltrige bis jüngere Kleinbauten stehen direkt daneben. Wie zu Anfangszeiten lässt sich in einem gedeckten Pavillon das Picknick aus dem eigenen Rucksack geniessen. Auch der Stall, in dem einst Transportesel und Maultiere untergebracht waren, ist baulich fast unverändert; er steht nun aber vom Wandern ermüdeten Kinder zum Spielen zur Verfügung.

Dem Lauf der Zeit sowie den Komfort- und Sicherheitsbedürfnissen stärker angepasst sind derweil die externen, sanitären Anlagen für die Gäste. Ein Neuling ist der Turm, der als Rückzugsort zum Schlafen und Ausruhen dient. Leicht erhöht und auf der rückwärtigen Seite der Gasthütte platziert, fügt er sich selbstbewusst in dieses Ensemble ein – ohne die bestehende Hierarchie aus Haupt- und Nebenbauten zu hinterfragen. Als traditioneller Strickbau respektiert er auch das bautechnisch Vorhandene. Trotz seinem geschliffenen Äusseren ist er kein aufdringlicher Findling, sondern ein ruhiger und ausgewogener Beistand im lockeren Lärchenwald.

Das Bauwerk selbst ist rundum sowie von Kopf bis Fuss reduziert gestaltet und materialisiert: Die Strickbauwände stehen auf einem schlanken Betonsockel und sind ihrerseits von wenigen, kleinen Fenstern bis sehr kleinen Lüftungslöchern durchbrochen. Die beiden unteren Etagen sind über das natürliche Gelände erreichbar. Zum Obergeschoss führt eine luftige Aussentreppe; der Eingang ist mit einem Vordach und einer Seitenschürze geschützt. Zinnenartige Fassaden betonen die aufrechte Haltung des Turms. Das Pultdach kragt einzig über der südlichen Front aus, was zusammen mit der leichten Neigung die Entwässerung sicherstellt.

Die Wände sind baulich eher karg aber trotzdem ausreichend vor der Witterung geschützt; die trockene Engadiner Höhenluft und die Resistenz von Lärchenholz ergänzen sich gut, erklärt Architekt Ramun Capaul.

Wettbewerb für die Erweiterung

Seit dem Ende der Herbstferien befindet sich die Hütte im Winterschlaf. Haupthaus, Nebenbauten und auch der Turm für die freien Familien- und Zimmerstunden sind sowieso nur auf saisonale Beherbergung ausgelegt. Dementsprechend dünnhäutig ist der Neubau konstruiert. Die gestapelten Holzwände umhüllen einzig Schlaf- und Sanitärbereiche mit einer gedämmten Doppelschicht. Sobald die Nächte kälter werden, sorgt ein Holzofen, der seinerseits turmhoch alle drei Geschosse durchzieht, für die interne Temperierung. Das Hüttenpaar fand zwar wenig Zeit, den Komfort in den Schlaf- und Aufenthaltsräumen zu geniessen, so Wirtin Nicole Naue. Aber ihre beiden Kinder, die das Reduit zum Homeschooling nutzten, seien sehr zufrieden gewesen.

An ein derart familiäres Ambiente hatten die Architekten ursprünglich nicht gedacht. Ihr Anfangsentwurf enthielt kleine Zimmer für Gäste. Im Gegenzug wäre Platz im Haupthaus frei geworden, um den Beherbergungsbetrieb einfacher zu organisieren. Genau dieses Handicap, die enge räumliche Vermischung von Gast- und Servicezonen, sollte mit der Hüttenerweiterung behoben werden, aber ohne das Übernachtungsangebot für etwa 60 Gäste wesentlich zu erhöhen. Damit aus dem geplanten Gästeturm der nun realisierte Schlafturm werden konnte, war allerdings nicht viel mehr nötig, als die Innenausstattung auf den drei Niveaus zu adaptieren und zu variieren.

Modernste Technik hinter den Kulissen

Capaul & Blumenthal schlugen im Wettbewerb als einzige eine räumliche Auslagerung vor und verzichteten auf Anbauten oder eine Aufstockung der Cluozza-Hütte. Diese sollte möglichst in der vorgefundenen L-Form belassen werden. Äusserlich beschränkten sich die Eingriffe auf den Rückbau des Windfangs vor dem ehemaligen Haupteingang und den Ersatz der Dachhaut: Holzschindeln anstelle von Eternitplatten.

Die Veränderungen im Innern erfolgten noch zurückhaltender: Die helle Veranda wurde zum Entrée mit grosszügiger Garderobe umfunktioniert. Derweil sind die Schlafkammern und -kojen nur marginal angepasst und mit Einbaumöbeln ergänzt worden. Die Architektur und der Charakter der Nationalparkhütte zeichnen insofern selbst den Lauf eines Jahrhunderts nach.

Hinter den Kulissen ist jedoch modernste Technik dazugekommen. Sie soll einen möglichst ökologischen Gastro- und Hotelleriebetrieb ermöglichen. Mit deutlich über 4000 Übernachtungen wurden die Erwartungen im Premieresommer übertroffen; diese Besuchsfrequenz ist sogar höher als in den übrigen Bündner SAC-Hütten.

Um dafür aber weniger Flüssiggas als zuvor per Helikopter einfliegen zu müssen, gehörte die Erneuerung der Energieversorgung ebenfalls zum Erweiterungsprojekt. Mit peripheren Massnahmen gelang es, die Hälfte des Eigenbedarfs – für Kochen, Abwaschen, Kühlen und zum Beheizen und Beleuchten der Essräume – neuerdings vor Ort zu erzeugen. Die alte Kleinturbine im nahen Bach wurde durch ein leistungsfähigeres Aggregat ersetzt, und eine Photovoltaikanlage bestückt zudem das Turmdach.

Ganz autark erfolgt die Abwasserbehandlung. Ein natürlicher Klärgarten, der unterhalb der Hütte angelegt ist, reinigt das Abwasser aus der Küche und den Toiletten so gut, dass es danach frei in den Fluss Cluozza abfliessen darf. Die Schadstoffe bleiben derweil im Filtersubstrat, bestehend aus Holzschnitzeln und den Wurzeln einer standortgerechten Bepflanzung hängen. Die schonende Technik wurde im Gewässerforschungsbereich der ETH entwickelt und bereits in anderen Berghütten oder auch Tiny-Häusern erprobt. Beim Bauen im geschützten Nationalpark geht man also in allen Belangen äusserst sorgfältig vor. Und es scheint, sowohl die Architektur als auch die Technik wissen sich dafür vor allem traditioneller Mittel zu bedienen.

Staublawinen und Erdschollen

 

Die Chamanna Cluozza steht an einem riskanten und exponierten Ort. So muss der schlanke Turm dem Druck von Staublawinen standhalten, falls sich die Schneehänge auf der gegenüberliegenden Talseite entladen. Zwei vertikale Metallstangen spannen die Strickwände an jeder Ecke ein.

 

Natürliche Gefahren lauern aber auch von oben: Bei Starkregen ist die Geländeterrasse von Hangrutsch und Murgang bedroht. Ein Erdwall lenkt das Geröll im Bedarfsfall vom Turmstandort ab; der Aushub für das Fundament reichte aus, um den erforderlichen Schutzdamm aufzuschütten.

 

Zusätzlich zu den Sicherungsmassnahmen waren Eingriffe für die Aufwertung der Standortökologie und kleinflächige Renaturierungen rund um die Schutzhütte erforderlich, obwohl der Standort mitten im Nationalpark liegt. Doch frühere Bautätigkeiten und die vielen Gäste hinterliessen störende Spuren auf dem Waldboden. Und wo Bauschutt abgelagert wurde, blieben karge Kiesflächen zurück. Um diese Schäden zu beheben, ergänzte die Bauherrschaft den Auftrag zur Hüttenerweiterung mit einem nationalparkgerechten Gestaltungskonzept.

 

«Dabei war auch die Begehbarkeit des Geländes neu zu definieren», sagt Nina von Albertini, die für Planung und Begleitung der Umgebungsarbeiten zuständig war. Sie beinhalteten ein Aufräumen: Störende Elemente wie Beton- und Zementplatten wurden entfernt. Anstelle letzterer schützt nun eine Pflästerung den Boden rund um die Hütte. Die Steine dafür schleppte das Parkpersonal in freiwilliger Arbeit vom nahen Bach zur Cluozza-Terrasse hoch.

 

Ein Gras- und Strauchmosaik

Um den beschädigten Waldboden standortgerecht und autochthon zu begrünen, kam eine spezielle Impf-Methode zur Anwendung: Mit Moos, Gräsern und Zwergsträuchern bewachsene Bodenschollen aus unmittelbarer Umgebung überdecken neu die kahlsten Stellen. Und auf den Flächen dazwischen wurde Pflanzensamen aus einer benachbarten Wiese eingesät.

 

Dieser Input genügt, damit sich die Natur weitgehend selbst regenerieren kann. Weil sie aber dafür doch einige Zeit benötigt, werden Hüttengäste, die ab nächsten Frühsommer wieder willkommen sind, mit auf Kniehöhe angebrachten Seilen an den sensiblen Stellen vorbeigeführt.

Instandsetzung und Erweiterung Chamanna Cluozza, Val Cluozza Zernez GR

 

Bauherrschaft
Schweizerischer Nationalpark, Zernez

 

Architektur
Capaul & Blumenthal arch. ETH BSA, Ilanz/Glion

 

Bauleitung
Cadonau büro d`architectura, Ramosch

 

Tragkonstruktion
Conzett Bronzini Partner, Chur

 

Holzbau
ruwa holzbau, Küblis

 

Lärchenschindeldächer
Salzgeber Marangun, S-chanf

 

Schreinerarbeiten
Falegnamaria Spiller, Scuol / Peider Falegnamaria, Susch

 

Landschaftsarchitektur
Nina von Albertini, Dusch/Paspels

 

Abwassersystem
vuna, Dübendorf

 

Gebäudetechnik / Photovoltaik
Esotec, Innertkirchen

Étiquettes

Sur ce sujet