«Stan­dard­werte sind zu hin­ter­fra­gen»

Der Kanton Graubünden will nicht nur nachhaltig, sondern explizit für die klimaneutrale Zukunft bauen. Den Aktionsplan «Green Deal für Graubünden» verabschiedete das Bündner Parlament im letzten Jahr. Dafür wurde bereits ein Leuchtturmprojekt auserkoren: Beim Zusammenlegen zweier Polizeistützpunkte zu einem neuen Einsatzstandort soll das Netto-Null-Ziel angestrebt werden. TEC21 sprach mit den Beteiligten.

Date de publication
12-04-2022

Die Umsetzung ist schon im Gang: 2021 wurde der Architekturwettbewerb für den «Verkehrsstützpunkt Kantonspolizei» entschieden. Die Aufgabe bestand darin, ein Polizeigebäude mit Arbeits- und Einsatzräumen für 50 Mitarbeiter zu entwerfen und Platz für rund 60 Einsatz- und Betriebsfahrzeuge sowie eine Raumreserve vorzusehen. Der Standort für das Green-Deal-Pilotprojekt befindet sich auf einer schmalen Parzelle, die von der Autobahn und einer Kantonsstrasse eingeklemmt ist.

Das Siegerprojekt «Far» (rätoromanisch für «Leuchtturm») von Comamala Ismail Architekten, Delsberg komprimiert und separiert die Raumansprüche: Ein würfelförmiges Gebäude mit Kantenlänge unter 20 m wird an den Westrand des Baustandorts gesetzt; die grosse Parkfläche wird im Untergrund bereitgestellt. Der viergeschossige Baukörper gliedert sich um einen zentralen Erschliessungskern Seine Konstruktion ist massiv, unter Verwendung von Recyclingbeton und Lehm. Auf dem Dach und an den Fassaden werden Photovoltaikanlagen integriert.

Auf dem zweiten Platz folgt ein Entwurf (Arge Fanzun Chur/Büro Krucker Zürich), dessen Typologie im Wettbewerb mehrmals vorgeschlagen wurde. Sämtliche Nutzflächen sind auf freiem Terrain platziert. Das Polizeigebäude ist ein langgezogener, zweigeschossiger Baukörper, dessen Leichtbaukonstruktion eine grosse Autoeinstellhalle überdacht. Die Wettbewerbsjury taxierte diese Vorschläge als «wenig kompakt und ineffizient». Mit dem Verzicht auf eine Tiefgarage wäre zwar viel graue Energie eingespart worden. Doch die ökologische Vorprüfung aller eingereichten Beiträge ergab, dass dies kein entscheidender Faktor für das Gesamturteil war.


TEC21: Frau Mittelbach, Sie beurteilten als Jurymitglied die Projekte im Wettbewerb für einen Verkehrsstützpunkt. Gesucht war ein Leuchtturmprojekt, dessen CO2-Emissionsbilanz in Richtung netto null gehen soll. Was macht der Gewinner besser als die Konkurrenz?

Heidi Mittelbach: Der erstrangierte Entwurf überzeugte, weil er die Nutzer, also die Bedürfnisse der Polizei, am besten aufgreift. Andere Vorschläge setzten sich stärker mit der Nachhaltigkeit auseinander. Doch die Jury wog die jeweiligen Qualitäten gegenseitig ab, um die verschiedenen Ansprüche miteinander in Einklang zu bringen. Denn was bringt ein nachhaltiges Gebäude, das den Nutzenden nicht genügt? Das Gewinnerprojekt hat allerdings ein grosses Potenzial, die CO2-Emissionen zu reduzieren.

Markus Zwyssig: Das Siegerprojekt sticht mit einigem entscheidend hervor: Es hat eine sehr kompakte Form. Die Konstruktion ist reduziert, aber einfach und klar strukturiert. Zudem weist das Projekt eine hohe Nutzungsflexibilität auf. Insofern wird deutlich, dass das Netto-Null-Ziel nicht nur die Betriebsphase, sondern auch die Erstellung prägt. Zum Wettbewerb möchte ich jedoch ergänzen: Wir haben bewusst ein offenes Verfahren gewählt, um eine hohe Beteiligung zu erreichen. Ich hätte mir deshalb mehr als nur 13 Vorschläge gewünscht. Zudem haben nicht alle Teilnehmer die Grundidee unseres Vorhabens verstanden.


Herr Ismail, was hat ihr Büro an der Teilnahme gereizt?

Toufiq Ismail-Meyer: Die Aufgabe, ein Polizeigebäude zu realisieren, ist uns bekannt. Auch am Thema Nachhaltigkeit sind wir interessiert. Trotzdem war der Entscheid, einen Entwurf abzugeben, lange Zeit in der Schwebe. Verunsichert haben das umfangreiche Pflichtenheft und viele Zusatzanforderungen, die für ein offenes, einstufiges Wettbewerbsverfahren unüblich sind. Dennoch wählten wir folgende Entwurfsstrategie: Der Schwerpunkt liegt auf multifunktionalen Flächen, kurzen Erschliessungswegen und flexiblen Raumstrukturen. Das Thema Netto-Null haben wir dagegen erst konzeptionell umrissen. Auf technische Raffinessen oder eine Ökobilanzierung haben wir deshalb verzichtet. Aufgrund der spezifischen Betriebsanforderungen erschien es uns ohnehin opportun, eine Offenheit für den Dialog mit den künftigen Nutzern zu signalisieren. 


In der Charakterisierung dieses Projekt wird die Effizienz in mehrfacher Hinsicht gelobt, als geometrische Qualität und als Gewinn für die Nutzung. Lässt sich daraus eine allgemeine Erkenntnis für das klimagerechtere Bauen ableiten?

Heidi Mittelbach: Die Kompaktheit ist ein wichtiges Kriterium, wenn der Energiebedarf für die Gebäudenutzung verringert und der Ressourcenaufwand beim Bauen reduziert werden sollen. Wir dürfen bei diesem Projekt aber nicht übersehen, dass nicht alles optimiert werden kann. Für den Fahrzeugpark wird eine Tiefgarage erstellt, die sehr viel graue Energie verursacht.


Also ist die Kompaktheit des Betriebsgebäudes ein Kompromiss…

Heidi Mittelbach: Ja, gewissermassen schon. Andere Wettbewerbsvorschläge verzichteten auf eine Unterkellerung. Es war sicher eine Herausforderung auf dem gewählten Perimeter ein Gebäude zu entwerfen, das der Kostenvorgabe, den hohen Ansprüchen an die Nachhaltigkeit und den Nutzeransprüche gerecht wird. Nun hat die Jury aber ein Projekt mit Tiefgarage ausgewählt, das dem Nutzer gerecht wird und ein grosses Optimierungspotenzial für die Nachhaltigkeit besitzt. Dies hält den Bauherrn nicht davon ab, das Gebäude so weit wie möglich zu optimieren und auf einen Netto-Null-Weg zu bringen.

Heike Zeifang: Obwohl es sich um einen Leuchtturm handelt, heisst das nicht, dass keine Zielkonflikte auftreten können.
Der Ansatz der Bauherrschaft ist: Das Gebäude muss nachweisen können, wieviel es für das Netto-Null-Ziel konkret beitragen kann.  Hierzu gibt es noch keine Rezepte. Aber die Effizienz ein möglicher Baustein auf diesem Weg.


Herr Ismail-Meyer, welche Optimierungsschritte wurden den Architekten nahe gelegt?

Toufiq Ismail-Meyer: Wir haben der Bauherrschaft für die Weiterbearbeitung folgenden Deal vorgeschlagen: Der Nutzer bleibt im Zentrum, aber für die Optimierung setzen wir auf höhere Suffizienz. Heute sind oft unwidersprochene Ausbau- und Komfortstandards üblich, von denen manchmal abgewichen werden kann. Etwa bei der Belüftung, der Wärmedämmung oder dem internen Schallschutz. Wir sprechen uns deshalb mit dem Bauherrn ab, welche Anforderungen wir reduzieren und welche konstruktiven Details wir vereinfachen können. Dadurch sinken in der Regel der Materialbedarf und die graue Energie eines Gebäudes.


Können Sie dazu ein paar Beispiele erläutern?

Toufiq Ismail-Meyer: Fast alle Elektroleitungen und Lüftungskanäle sind sichtbar und als Aufputz installiert. Auch beim Schallschutz verzichten wir auf einiges.


Markus Zwyssig: Zudem verschlankte der Bauingenieur den Deckenaufbau so weit, dass 20 % weniger Beton nötig ist. Der Fensteranteil an den Fassaden wurde auf 27 % reduziert, wohingegen sonst 50 % üblich sind. Wir können auch so das Tageslicht optimal nutzen, aber verwenden weniger Glas und Metall zum Bauen. Die laufende Optimierung beinhaltet also eine Reduktion des Ausbaustandards und fördert insofern das disziplinierte Entschlacken an vielen Projektdetails. Was die Architekten mit dem Planungsteam leisten, wird unseren Ambitionen, netto null zu erreichen, gerecht.

Heike Zeifang: Im Auftrag des Bauherrschaft oblag mir die Bilanzierung der grauen Energie, deren nicht erneuerbarer Anteil dem CO2-Austoss für die Erstellung eines Gebäudes entspricht. Der kompakte Siegerentwurf brachte bereits günstige Voraussetzungen mit. Eine Überarbeitung der Bauteilschichten forciert das «Weniger ist mehr»-Prinzip. Zudem wird Beton nur dort eingesetzt, wo er zwingend ist. Unter Beigabe von Lehm kann der Baustoff selbst klimaoptimiert werden. Und für die Raumaufteilung stehen Lehmbausteine zur Verfügung, die sich positiv auf das Innenklima auswirken.

Toufiq Ismail-Meyer: Effektiv haben wir eine riesige Palette an Möglichkeiten zur Hand, um Material einzusparen. Architekten und Planer stehen sogar in der Hauptverantwortung, weil sie einen grossen Hebel selbst betätigen können. Zwar haben wir uns auch mit Tätigkeiten zu befassen, die mir weniger liegen, wie zum Beispiel ein Berechnen von CO2-Bilanzen. Dennoch sollten wir das nicht an Spezialisten delegieren. Nur mit eigenen Zahlen können wir belegen, wie sich konstruktive Vereinfachungen auswirken – und schliesslich den Auftraggeber von unseren Ideen überzeugen.


Der öffentliche Gradmesser für nachhaltige Bauten war lange Zeit ein gut gedämmtes, kontrolliert belüftetes Energiesparhaus à la Minergie. Wie kann man sich das klimaneutrale Bauen im Vergleich dazu vorstellen?

Markus Zwyssig: Bisher strebte Graubünden bei eigenen Immobilien die Standards Minergie oder Standard Nachhaltiges Bauen Schweiz an. Diese Betrachtungsweise ändert, weil der Lebenszyklus eines Gebäudes in den Fokus gelangt. Neu machen wir uns Gedanken über die Kosten im gesamten Lebenslauf, von der Projektierung über die Erstellung bis zur Bewirtschaftung und zum allfälligen Rückbau. Zum Beispiel gilt: Ein reduziertes Installations- und Konstruktionsprinzip reduziert auch den Bewirtschaftungsaufwand.


Aber verändern sich dadurch die Projekte auch?

Markus Zwyssig: Neu kommt eine integrierte PV-Anlage dazu, zur Amortisation der grauen Energie. An den Fassaden und auf dem Dach des neuen Polizeigebäudes erzeugt sie doppelt so viel Energie wie vor Ort benötigt. Die eine Hälfte versorgt den Standort mit Strom für den emissionsfreien Betrieb. Die andere Hälfte dient dazu, die graue Energie des Gebäudes zu amortisieren. Vorwegnehmen kann ich: Die Netto-Null-Bilanz ist dank dem Einsatz von CO2-optimiertem Beton und der lokalen Eigenproduktion in Reichweite. Das heisst in rund 30 Jahren. Allerdings wissen wir erst nach der Projektübergabe, wie viel Baustoff verwendet und wie viel graue Energie effektiv verbaut wurde.

Heike Zeifang: Unsere Überschlagsrechnung bei der Bilanzierung des Entwurfs zeigte schon, dass die spezifischen Vorgaben des Gebäudestandards Minergie-Eco für die graue Energie eingehalten werden. Deshalb ist eine Verbesserung aufgrund der laufenden Optimierung zu erwarten.

Toufiq Ismail-Meyer: Die aktuellen Zahlen bestätigen, dass wir auf Kurs sind. Trotzdem möchte ich gewisse Probleme mit solchen Bilanzierungen nicht verhehlen. Teilweise sind Zahlen nicht aktuell und hinken den neusten Baustoffen hinterher. Standardwerte sind deshalb oft zu hinterfragen, zumal sie das Resultat einer Bilanzierung und der Optimierung erheblich beeinflussen. Ein Projekt mit solchen Instrumenten angemessen abzubilden, scheint uns nicht über alle Zweifel erhaben.

Heidi Mittelbach: Unabhängig der absoluten Zahlen: Die Instrumente, eine Ökobilanzierung während der Planung adäquat einzusetzen, liegen vor. Sie ermöglichen heute schon, die zentralen Hebel für ein klimagerechtes Bauen in frühen Phasen zu erkennen.

Heike Zeifang: Die Bilanzierung ist ein junges Gebiet, das weiterentwickelt wird. Zu erwarten sind also, dass die Handhabung vereinfacht und die Aussagekraft verbessert wird. Doch ich stimme zu: Nicht nur das klimaneutrale Bauen an sich, sondern auch die Entwicklungs- und Planungsverfahren sind auf Innovationen angewiesen.

Toufiq Ismail-Meyer: Sich an der Entwicklung eines solchen Prototypen zu beteiligen, finden wir sehr spannend. Die Ziele sind richtig. Daraus ein reproduzierbares Muster für das klimaneutrale Bauen zu entwerfen, scheint uns aber unmöglich. Denn jeder Standort bietet andere Voraussetzungen für die bestmögliche Umsetzung. Als modellhaft erscheinen mir jedoch die Ernsthaftigkeit und die Interdisziplinarität, die diesen Prozess prägen.

Gespräch mit

 

Toufiq Ismail-Meyer, Comamala Ismail Architectes, Delémont (Projektverfasser)

 

Heidi Mittelbach, Beraterin Nachhaltigkeit, Klimaschutz, Wirtschaft und Gesellschaft, Zürich

 

Heike Zeifang, Integrale Planung Intep, Zürich (Jury, Vorprüfung der Wettbewerbsbeiträge; fachliche Begleitung der Weiterbearbeitung)

 

Markus Zwyssig, HBA GR (Projektleitung Hochbauamt Kanton Graubünden)

 

Étiquettes

Sur ce sujet