«Das eine ist alt-neu, das an­dere ist neu-neu»

Rekonstruktion Schloss Berlin

Ein wiederaufgebautes Schloss der preussischen Könige mitten in Berlin, in dem völkerkundliche Objekte zu sehen sind, die teils aus der Kolonialzeit stammen – da sind lebhafte Debatten programmiert. Das Humboldt Forum ist auch nach seiner Eröffnung für viele ein rotes Tuch. Ein Streitgespräch mit zwei Rekonstruktionskritikern und einem Befürworter.

Date de publication
24-09-2021

Die Gesprächspartner

  • Dipl.-Ing. Arch. Christine Edmaier, Präsidentin der Berliner Architektenkammer
  • Dr. hc. Christoph Dieckmann, Schriftsteller und Essayist
  • Dr. Alexander Stumm, Architekturwissenschaftler, Dozent und Autor  


Frank Peter Jäger: Herr Stumm, sie haben 2017 über das Thema architektonischen Rekonstruktion promoviert. Warum?

Alexander Stumm: Mich hatte gereizt, dass das Thema emotional sehr aufgeladen ist – die verschiedenen Kontrahenten schlagen sich ja fast die Köpfe ein! Und ich fragte mich: Woran liegt das? Gerade weil in den Rekonstruktionsdebatte viel aneinander vorbeigeredet wird, bin ich im Buch strikt historisch vorgegangen, beginnend mit den Anfängen der Denkmalpflege im frühen 19. Jahrhundert, als auch die Rekonstruktionsfrage erstmals auf einer theoretischen Ebene reflektiert wurde. Davon ausgehend habe ich fünf verschiedene Konzepte der Rekonstruktion herausgearbeitet, die sich seitdem etabliert haben.


Frank Peter Jäger: Hat sich Ihre Einstellung zum Thema im Laufe der Arbeit gewandelt?

Alexander Stumm: Ich bin weder per se Rekonstruktionskritiker noch Rekonstruktionsbefürworter, sondern habe festgestellt, dass die ganze Debatte, sobald sie auf eine generelle Ebene gehoben wird, nicht mehr greift. Man kann Rekonstruktion immer nur anhand von konkreten Bauten analysieren und kritisieren, aber nicht per se sagen, dass Rekonstruktion schlecht oder gut wäre.


Frank Peter Jäger: Kann es sein, dass Rekonstruktionskritiker bei dieser Beurteilung mit zweierlei Mass messen? Der Barcelona-Pavillon von Mies van der Rohe ist eine Rekonstruktion von 1986. Gegen diesen Bau erhob niemand den Vorwurf eines architektonischen Fakes, jedes Jahr pilgern tausende von Architekturenthusiasten dorthin.

Alexander Stumm: Der Unterschied ist, dass es beim Barcelona-Pavillon darum ging, ein räumliches Gefüge, das wirklich exzeptionell war für die Moderne, wieder verfügbar zu machen. Die Fassaden des Stadtschlosses sind insofern etwas anderes, geben auch eine andere Aussage. Ich verstehe noch immer nicht, was die zeitgenössische Aussage dieser Fassaden ist. Beim Barcelona-Pavillon habe ich kein Problem damit, dass man ihn so geniessen kann.


Frank Peter Jäger: Die Rekonstruktion des Berliner Schlosses von Franco Stella behandeln Sie in ihrer Dissertation in der Kategorie «Kombination der Konzepte» gemeinsam mit David Chipperfields Wiederaufbau der Neuen Museums in Berlin. Was ist hier mit Kombination gemeint?

Alexander Stumm: Im Fall des Humboldt Forums im Berliner Schloss handelt es sich um eine Mischung aus Rekonstruktionskonzepten, weil nur der Grossteil der Fassaden in einer historisch simulierenden Weise rekonstruiert wurde,. Andere Bauteile sind modern.
Die Moderne kennt noch eine andere wichtige Form der Rekonstruktion, die interpretierende Rekonstruktion. Ich nenne als bekannten Vertreter Carlo Scarpa. Er fügte bei seinen Projekten in Norditalien die modernen Bauteile effektvoll in einen historischen Kontext, brachte jedoch auch dezidierte Brüche hinein. Ihm lag daran, historische Elemente und moderne Hinzufügungen klar voneinander zu trennen, er hob die Schnittpunkte gestalterisch hervor. Das macht Franco Stella gar nicht. Bei ihm grenzen Rekonstruiertes und Zeitgenössisches so nahtlos wie möglich aneinander an.

Christine Edmaier: Da möchte ich einhaken: Als David Chipperfield Architects 2010 für den Wiederaufbau des Neues Museum den BDA-Architekturpreis erhalten hatten, sagte der Laudator, mit dem Projekt sei ein Paradigmenwechsel eingeläutet worden, weil Chipperfield genau das tut: nämlich einfach weiterbauen. Schon anders weiterbaut, aber nicht immer diese Fuge macht, die berühmte Schattenfuge zwischen dem Neuen und dem Alten.
Anders allerdings als beim Projekt Chipperfields ist beim Schloss beides neu, während beim Neuen Museum noch alte Teile vorhanden sind.  Wie aber ergänze ich beim Schloss das Neue, wo ja beides neu ist? Das eine ist «alt-neu» und das andere ist «neu-neu». Muss ich also immer eine Fuge machen, oder muss ich das nicht? Wenn ich in diesem Fall zusätzlich noch eine Fuge einfügen würde, wäre das ja noch aufgesetzter.

Alexander Stumm: Genau, man braucht diese Fuge gar nicht, weil diese Zeitschichten identisch sind. Anders bei Chipperfield: Er schafft ähnlich wie bei der Dresdner Frauenkirche im Aussenbau archäologische Räume, wo viele Zeitschichten nebeneinander ablesbar sind. Daneben gibt es Bereiche, wo er eher wie Carlo Scarpa agiert und moderne Räume einfügt.


Frank Peter Jäger: Herr Dieckmann, sie sind in der DDR gross geworden, standen aber dem Rekonstruktionsprojekt freundlich gegenüber. Damit sind Sie der personifizierte Wiederspruch zur Behauptung, die Ostdeutschen seien unisono gegen das Schloss.

Friedrich Dieckmann: Diese Ansicht wäre eine völlige Verkennung der Situation. Wir hatten beispielsweise in Dresden diese intensive städtebauliche Bewegung in Gestalt der «Neumarkt-Gesellschaft», der es gelang, die Stimme der Bevölkerung beim modifizierten Wiederaufbau des Platzes um die Frauenkirche zur Geltung zu bringen. In Berlin gab es in Ost wie West Stimmen, die den Schloss-Wiederaufbau aus historisch-politischen Gründen ablehnten. Kreise, die man ruhig als reaktionär bezeichnen kann, hielten im Berliner Westen den Abriss des Palasts der Republik für einen Sieg über den Kommunismus.


Frank Peter Jäger: Sie haben sich sehr positiv über den Palast der Republik geäussert.

Friedrich Dieckmann: Der Palast der Republik war ein starkes Werk der Spätmoderne. Er war ein qualitätsvolles Produkt dieser Baugesinnung und zugleich ein Volkshaus grösster Dimension, das von der Bevölkerung sehr gut angenommen wurde. Deshalb war ich nicht für den Abriss.


Frank Peter Jäger: Anfang der 1990er-Jahre entstand die Idee, den Palast der Republik und eine wiederhergestellte Schlosskubatur baulich zu verschränken.

Friedrich Dieckmann: Der Architekt Frank Augustin und der Architekturhistoriker Goerd Peschken trugen diese Idee 1993 vor: Eine Verbindung des Palasts mit den davor befindlichen Teilen des Schlosses. Diese Collage-Lösung wurde dann in Gestalt einer 1 :1-Kulisse aus bemalten Planen wirkungsvoll veranschaulicht. Das fand ich seinerzeit – auch als Sinnbild der an Brüchen reichen deutschen Geschichte – einigermassen überzeugend. Gleichzeitig meldete sich der West-Berliner Publizist Wolf Jobst Siedler zu Wort und sagte: Nein, wir brauchen das ganze Schloss. Das Falsifikat sei aus städtebaulichen Gründen unumgänglich, denn die zeitgenössische Architektur sei per se nicht in der Lage, an dieser exponierten Stelle im Verhältnis zum Schlüter-Eosander-Bau etwas Gleichwertiges zu schaffen.


Frank Peter Jäger: Bald danach, 1993, schrieb der Bund einen städtebaulichen Wettbewerb, den sogenannten Spreeinsel-Wettbewerb aus.

Friedrich Dieckmann: Dieser Wettbewerb enthielt die Vorgabe, sowohl das Staatsratsgebäude wie auch den Palast zu vernichten. Das fand ich fahrlässig und unangemessen. Es gab dann drei erste Preise für zeitgenössische Bauten in der Proportion und Position des Schlosses; ein qualifizierter Entwurf, der den vorhandenen Palast einbezog, wurde mit dem 4. Platz abgefunden. Ich habe die Kritik an dem sich schliesslich durchsetzenden äusseren Wiederaufbau des Schlosses immer als heuchlerisch empfunden, weil sie den vorangegangenen Spreeinselwettbewerb ignorierte. Dort waren verschiedene zeitgenössische Lösungen für diesen Ort vorgeschlagen worden, die alle nicht überzeugten und in der späteren Diskussion keine Rolle mehr spielten. Die Behauptung, man habe hier zeitgenössische Lösungen von vornherein übergangen, ist schlechterdings falsch.


Frank Peter Jäger: Wann drehte sich die Debatte zuungunsten des Palasts?

Friedrich Dieckmann: Für mich bildete den Umschlagspunkt der Debatte der Asbestsanierungsbeschluss der scheidenden Regierung Kohl und der entsprechende Vertrag mit dem Unternehmen Strabag, wonach der Palast in den Rohbauzustand zurückversetzt wurde. Dass diesen Rohbau niemand wiederaufbauen würde, lag auf der Hand.

Christine Edmaier: Zentral ist für mich die Frage, warum haben alle Konzepte einer Collage, eines Zusammendenkens, damals keine Chance gehabt? Heute würde man versuchen, daraus etwas Gemeinsames zu gestalten. Die Architekten würden das als wahnsinnig spannende Aufgabe empfinden. Schon aus Nachhaltigkeitsgründen würde man nichts abreissen.


Frank Peter Jäger: Herr Dieckmann, in einem Essay schreiben sie, der Palast der Republik knüpfe an die Volkshausidee der Arbeiterbewegung um 1910 an. Auf Ihre Initiative hin ging dies als Leitbild für die künftige Schlossnutzung in die Empfehlungen der Expertenkommission ein. Das bedeutet, das Schloss ist quasi der neue Palast?

Friedrich Dieckmann: Die Kommission war etwas erschrocken, als ich sagte, das wird nun der neue Palast der Republik. Doch es liegt auf der Hand, dass der Bau genau das ist: ein republikanisches Schatz- und Volkshaus.


Frank Peter Jäger: Als Mitglied der Expertenkommission teilten sie nach anfänglicher Sympathie für ein Integrationskonzept den Standpunkt, die zeitgenössische Architektur könne keine adäquate Entsprechung für das Schloss bieten.

Friedrich Dieckmann: Wenn alle, auch die Rekonstruktionsopponenten, zu dem Schluss gekommen waren, dass das Schloss nach Position und Proportion städtebaulich richtig war, dann war es folgerichtig, auch zu den barocken Fassaden zurückzukehren. Eine differenzierte Formensprache wie in der Ornamentik Schlüters und Eosanders steht der modernen Architektur nicht mehr zur Verfügung; wir haben es mit dem Verlust einer humanen Dimension zu tun, die mit der Entstehung der menschlichen Kultur originär verbunden war. Auch das sprach für die vorgeschlagene Lösung.

Alexander Stumm: Das ist ein sehr pauschales und auch verkürzendes Argument. Dass die Architektur unserer Zeit keine zeitgenössische Entsprechung für diesen Bau hinbekommen könnte, finde ich einigermassen kulturpessimistisch.

Christine Edmaier: Wir sollten zwischen dem städtebaulichen Volumen und seiner Gestalt unterscheiden. Es kann schon sein, dass Herr Dieckmann Recht hat, wie auch manche Architekten, wenn sie sagen: das Schloss stand an der richtigen Stelle. Das hat auch der Palast der Republik mit seinem sehr problematischen Vorplatz gezeigt. Die richtige städtebauliche Antwort auf den Knick im Stadtgrundriss (zwischen Berliner Altstadt und barocker Friedrichstadt; Anm. d. Red.) ist, dass das Schloss in seinen Proportionen wieder dort stehen sollte. Daraus jedoch abzuleiten, dass man die Fassaden rekonstruieren muss, ist nicht zu begründen.


Frank Peter Jäger: All diese Argumente lassen sich jetzt an der Wirklichkeit überprüfen. Wie wirkt das Gebäude, das nun tatsächlich dort steht?

Christine Edmaier: Wenn man von den Linden kommt, ist das Schloss völlig unauffällig, als hätte es immer dort gestanden.

Friedrich Dieckmann: Das ist das Beste, was man über das Schloss sagen kann.

Christine Edmaier: Die Ostfassade gefällt mir aus irgendeinem Grund sehr gut. Sie ist eigentlich von der Anmutung her 80-90 Jahre alt, italienischer Rationalismus. Doch auch ein Besucher in 100 Jahren wird an der Ostfassade sehen, dass da etwas nicht stimmt. Sie erinnert zugleich an das Konzept von Kuehn Malvezzi-Architekten aus dem Schloss-Wettbewerb von 2008. Der Entwurf hatte das gleiche Raster, die gleiche Grosszügigkeit, aber ohne den Schmuck. Nebenbei ist es schade, dass die Loggien, die Stella im Wettbewerb vorgesehen hatte, ausgespart wurden. Das wäre noch viel stärker gewesen.

Alexander Stumm: Ich finde, dass die zeitgenössischen Teile der Architektur von Franco Stella stark abfallen gegenüber den rekonstruierten Teilen: Die Ostfassade und die Fassaden in den Innenhöfen, das ist Rationalismus, der letztlich faschistisch angehaucht ist. Etwas milder formuliert kann man auch sagen, dass diese Räume den Charme einer Kaufhaus-Architektur versprühen. Die modernen Einbauten und Fassaden überzeugen nicht. Sie hatten es Collage genannt, ich würde es nicht so nennen, denn in einer Collage sind Brüche intendiert, und die sehe ich hier nicht.


Frank Peter Jäger: Das Herzstück des Gebäudes bilden die Höfe und die Passage.

Christine Edmaier: Man muss differenzieren. Die zentrale Passage mit ihren Betonpfeilern links und rechts ist ein schöner Raum, das finde ich städtebaulich sehr gut gelöst. Sie ist eine super Erfindung. Stella war derjenige, dem unter dieser Aufgabenstellung der beste Entwurf eingefallen ist. Dafür braucht man kein grosses Büro, sondern nur einen klugen Kopf. Aber in den Höfen funktioniert es überhaupt nicht. Da wurde eine Seite rekonstruiert und das andere, was ist das eigentlich? Würden Sie sagen, das ist modern?

Friedrich Dieckmann: Es ist von einer Sachlichkeit, deren Kahlheit den Ansprüchen der Moderne entspricht.

Christine Edmaier: Aus ästhetischer Sicht tut es mir weh, in diese Höfe zu blicken. Was mir noch viel mehr weh tut, sind die Decken. Wenn ich durch Räume wie den ehemaligen Rittersaal gehe und an zwei oder drei Wänden habe ich diesen Bauschmuck – aber die Decke hat Fugen und ich sehe, dass es eine Gipskartondecke ist, solche Dinge schmerzen sehr.


Frank Peter Jäger: Ist die Zeit nicht reif für ein entspannteres Verhältnis zur architektonischen Rekonstruktion?

Alexander Stumm: Ich bin absolut für eine Entspannung der Rekonstruktionsdebatte. Doch das Humboldt Forum im Schloss ist kaum zu trennen von der Frage, worum es in diesem Gebäude geht: Um die Ausstellung von aussereuropäischer Kunst, die ethnologischen Museen nehmen einen Grossteil der Fläche ein. Weshalb aber brauchen wir dafür preussische Schlossfassaden? Die Verbindung der rekonstruierten Herrschaftsarchitektur, die auch auf die deutsche Kolonialzeit verweist, mit den Exponaten, oftmals Raubkunst aus dieser Zeit – da fällt es mir schwer, entspannt zu sein. Hauptproblem ist aus meiner Sicht die wiederhergestellte Kuppel Stülers, bekrönt vom auf dem Reichsapfel stehenden Kreuz. Unterhalb der Kuppel ist ein Sinnspruch eingefügt, der besagt, dass alle vor der christlichen Macht niederzuknien hätten. In diesem Kontext ist das ein rassistisches Statement, das Erinnerung an die schlimmsten Kolonialverbrechen wachruft. Als Gesellschaft müssen wir uns dieser Geschichte stellen und eine klare Position beziehen. In zehn Jahren, wenn die damaligen Entscheidungsträger alle tot sind, müssen wir dafür eine Lösung finden: Der Spruch muss entweder entfernt oder, vielleicht besser, künstlerisch so überformt werden, dass wir zeigen können, wie rassistisch unsere Gesellschaft im frühen 21. Jahrhundert noch war.

Friedrich Dieckmann: Es ist ja nicht so, dass wir das, indem wir es wiederherstellen, akzeptieren. Wir nehmen es als Zeichen einer vergangenen Zeit, das in der Tat Anlass zu Diskussionen bietet. Was die Historie angeht: Die Stüler-Kuppel entstand nicht in der kolonialen Phase des deutschen Kaiserreichs, sondern wurde um 1850 errichtet, lange vor dessen Gründung – beauftragt von Friedrich Wilhelm IV., einem frommen und konterrevolutionären, aber keineswegs rassistischen Regenten.

Christine Edmaier: Es ist ein erfreulicher Nebeneffekt des Humboldt Forums, dass seine Eröffnung den Anstoss zu dieser überfälligen Debatte gab. Und es interessiert mich schon, wie man es im Ausland wahrnimmt, dass Berlin in der Mitte der Stadt dieses Schloss wiederaufbaut und darin unter anderem auch Raubkunst präsentiert.
Trotzdem denke ich: Es kann schon Fälle geben, in denen Rekonstruktion richtig ist. Ich würde sie nicht pauschal ablehnen. Interessant finde ich ein jüngeres Konzept, das nämlich den Bauplan eines wichtigen Gebäudes als eine Art immaterielles Welterbe betrachtet. Für unseren westlichen Denkmalbegriff ist das sehr gewöhnungsbedürftig, weil er eng mit dem Material, dem physischen Bau verbunden ist. Wir kennen natürlich alle das Beispiel der japanischen Holztempel, die alle 25 Jahren nach genau dem gleichen Plan wiederaufgebaut werden.
Daher meine ich, diese Denkmaleigenschaften des Plans und jene des Bauwerks darf man nicht vermischen. Deshalb, Herr Dieckmann, fände ich es schon spannend, wenn Sie mir erklären, warum wir die Fassade nicht so rekonstruieren können, dass man es auf den ersten Blick sieht? Sei es mit einer Fuge oder ähnlichem.

Friedrich Dieckmann: Aber warum muss man es denn sehen? Wenn man es weiss, muss man es doch nicht sehen! Dass es eine Rekonstruktion ist, steht doch in jedem Reiseführer.

Christine Edmaier: Das Berliner Nikolaiviertel, ein Ensemble der Postmoderne, ist seit kurzem Denkmal. Ich finde, dort sind die Schichten hervorragend ablesbar. Manche Teile sind so rekonstruiert, dass sie aussehen, als wären sie alt. Daneben gibt es neuerfundene Ornamente an historisierenden Gebäuden in Plattenbauweise. Ähnlich wie bei Stella ist es entweder «alt-neu» oder «neu-alt». Diese Art von Rekonstruktion der DDR fand ich sehr spannend, nämlich eine städtebauliche Rekonstruktion. Dort findet man zum Beispiel einen Torbogen, durch den mittig eine Fuge geht. So kann man das vielleicht machen, denn dort wird gar nicht erst versucht, etwas zu simulieren.
Ich war aber noch aus einem anderen Grund gegen die Rekonstruktion: Wir haben genügend Bauwerke, die es wert sind, erhalten zu werden – und für deren Bewahrung es an Geld fehlt. Was mir nicht in den Kopf will: Wenn wir diese Gebäude nicht richtig pflegen, warum wird dann ein anderes Gebäude wiederaufgebaut?


Frank Peter Jäger: Was ist dem Humboldt Forum für die Zukunft zu wünschen? Was kann es für die Stadtgesellschaft leisten?

Christine Edmaier: Ich fände es wichtig, dass die Debatte, die wir heute geführt haben, anhand des Humboldt Forums weitergeführt wird, und zwar auf einer sachlichen Ebene. Also nicht: Ich bin dafür oder ich bin dagegen. Sondern: Ich schaue es mir genau an. Was bedeutet es, wenn ich ein Teil so wiederaufbaue als wäre es alt und ich baue ein Teil so wieder auf, als wäre es neu? Ich denke es ist gut, wenn dieser Bau bei den Menschen einen Denkprozess über die Baugeschichte in Gang setzt – auch über seine Eröffnung hinaus.
 

Dipl.-Ing. Christine Edmaier, geb. 1961, als selbstständige Architektin tätig in Berlin seit 1990, seit 2015 als Partnerin des Büros S.E.K. Architektinnen. Langjährige berufspolitische Gremienarbeit mit teils auch innerhalb der Disziplin unbequemen Standpunkten. Engagement u.a. für junge Denkmale der Nachkriegsmoderne. Ab 2009 Vizepräsidentin, von 2013–2021 Präsidentin der Berliner Architektenkammer. 2003 bis 2009 Vorsitzende des BDA-Landesverbands Berlin. Verschiedene Lehrtätigkeiten.

 

Dr. h.c. Friedrich Dieckmann, geb. 1937, Schriftsteller und Publizist. Tätigkeit als Dramaturg am Berliner Ensemble. Zahlreiche Bücher und Essays zu Themen aus Theater, Oper, Literatur- und Zeitgeschichte, aber auch, am Beispiel Dresdens und Berlins, zu Fragen von Städtebau und Rekonstruktion. Von 2000 –2002 Mitglied der 23-köpfigen Internationalen Expertenkommission Historische Mitte Berlin, die mehrheitlich die Empfehlung für einen Schloss-Wiederaufbau aussprach.

 

Dr. Alexander Stumm, geb. 1984, lehrt Architekturtheorie an der TU Berlin und Architekturgeschichte an der VGU in Ho-Chi-Minh-Stadt. Er arbeitet als freier Journalist und konzipiert Ausstellungsbeiträge. Studium der Kunstgeschichte und Neuere Deutsche Literatur in München, Berlin und Venedig. Seine Promotion «Architektonische Konzepte der Rekonstruktion» erschien 2017 als Buch in der Reihe Bauwelt Fundamente. 2017–2019 Redakteur der Zeitschrift Arch+.

Weiterführende Literatur

 

Friedrich Dieckmann: «Vom Palast der Könige zum Forum der Republik – Zum Problem der architektonischen Wiederaufführung», (ISBN 978-3-95749-023-0), 192 S., Berlin 2015.

 

Alexander Stumm: «Architektonische Konzepte der Rekonstruktion», (Bauwelt-Fundamente Nr. 159), ISBN: 9783035613360, 231 S., Basel 2017.

 

Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss (Hg.)/ Leo Seidel (Fotos): «Das rekonstruierte Berliner Schloss», ISBN: 978-3-7774-3762-0, 160 S., München 2021.

 

 

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