Champions League des Freiformbaus
In Stuttgart wird derzeit die Halle des neuen Durchgangsbahnhofs gebaut. Die 28 Kelchstützen, die das Schalendach künftig tragen, überzeugen konstruktiv und technologisch.
Der Bahnausbau Stuttgart – Ulm ist eine der grössten Infrastrukturmassnahmen Europas. Das umstrittene und immer noch viel diskutierte Projekt beinhaltet die Umgestaltung des Bahnknotens Stuttgart und die Umwandlung des bestehenden 16-gleisigen Kopfbahnhofs in einen 8-gleisigen, tiefer liegenden Durchgangsbahnhof. Dieser ist zum jetzigen Kopfbahnhof um 90 Grad gedreht und unter die Erde gelegt.
Der neue Hauptbahnhof Stuttgart besteht aus insgesamt acht Gleisen an vier Mittelbahnsteigen mit je 420 m Länge. Die oberirdischen Bahnanlagen im Stadtzentrum werden zurückgebaut; die frei werdenden Flächen sollen für die Stadtentwicklung genutzt werden. Die bisher durch die Gleisanlagen getrennten Stadtteile Stuttgart-Ost und Stuttgart-Nord werden so nach mehr als 100 Jahren wieder fussläufig miteinander verbunden.
1997 führte die Deutsche Bahn einen zweistufigen, internationalen Realisierungswettbewerb zum Um- und Neubau des Stuttgarter Hauptbahnhofs durch. Ingenhoven Architekten aus Düsseldorf setzten sich nach drei Auswahlrunden gegen 128 weitere teilnehmende Planungsbüros durch. Zwischen Wettbewerb und Baubeginn liegen 20 Jahre – Gründe für den späten Baubeginn gibt es viele, ein Hauptgrund waren die Widerstände aus der Bevölkerung gegen das Projekt.
Weisser Sichtbeton über der Bahnhofshalle
Die neue Verkehrsstation entsteht unmittelbar hinter dem heutigen Kopfbahnhof, dem sogenannten Bonatz-Bau 1. Das historische Bauwerk mit seinem stadtbildprägenden Empfangsgebäude, dem Turm, den Schalterhallen und dem Arkadengang bleibt bestehen.
Eine ausführlichere Version dieses Artikels finden Sie in TEC21 15–16/2020 «Beton, frei geformt».
Die neue Bahnhofshalle ist ein 450 m langerund 80 m breiter monolithischer Bau, bestehend aus Trogbauwerk und Schalendach. Sie wird als integrales Tragwerk bemessen und mit begrenzter Gründungstiefe oberhalb des Grundgipses auf Ortbetonrammpfählen gegründet.2 Die Konstruktion wird von Trogwänden und 28 Kelchstützen getragen.
Jeder Dachkelch unterscheidet sich in Neigung, Form und Höhe (9 m bis 12 m) von den anderen. Die ausladende Kelchschale mit der Hutze 3 für das Lichtauge spannt sich jeweils über den sich nach unten verjüngenden Fuss. Die Kelchstützen sind nach oben offen und werden künftig durch eine Stahl-Glas-Konstruktion geschlossen. Durch diese kreisrunden Öffnungen soll das Tageslicht auf die Bahnsteige fallen.
Die erste Kelchstütze wurde Ende Oktober 2018 fertiggestellt. Inzwischen ist die siebte Stütze gebaut und damit die zweite Kelchreihe vollständig. Sobald jeweils sechs Kelche als zusammenhängende Gruppe stehen, werden nach und nach die verbleibenden schmalen Zwischenräume geschlossen. Zum Fahrplanwechsel am 14. Dezember 2025 soll der neue Stuttgarter Durchgangsbahnhof in Betrieb gehen.
Anmerkungen
1 Der Architekt Paul Bonatz (1877–1956) und sein Partner Friedrich Eugen Scholer (1874–1948) entwarfen das Empfangsgebäude des Stuttgarter Bahnhofs (1914–1928). Der historische Bonatz-Bau wird ab 2020 umfangreich modernisiert. Das denkmalgeschützte Bauwerk erhält ein neues Tragwerk und moderne Gebäudetechnik.
2 B. Mehlig, C. Bok, R. Becker, «Im Zusammenspiel innovativer Verfahren und digitaler Prozesse die Grenzen des Stahlbetons erweitern», in: Bauingenieur, VDI-Jahresausgabe 2019/2020.
3 Der Begriff «Hutze» bezeichnet die Aufkantung entlang der Kelchoberseite, die das Lichtauge einfasst und trägt.
Ein neues Video zeigt die 900 m lange Bahnhofsbaustelle von oben.
Am Bau Beteiligte
Bauherrschaft
Deutsche Bahn, Berlin, vertreten durch DB Projekt Stuttgart Ulm
Architektur und Generalplanung
Ingenhoven Architekten, Düsseldorf
Wissenschaftliche Unterstützung bei Formfindung, Gestalt, Konstruktion und Struktur
Frei Otto (1925 – 2015), Leonberg
Stahlplanung
Sülzle Stahlpartner, Stuttgart
Ausführung
Ed. Züblin, Stuttgart
Schalungsbau
Züblin Timber, Aichach (D)
Unterstützkonstruktion
Robusta-Gaukel, Weil der Stadt (D)
Tragwerk-, Rohbau- und Bewehrungsplanung
Werner Sobek, Stuttgart