«Ar­chi­tek­tur­wett­be­werbe sind Wis­sens­ge­ne­ra­to­ren»

In den letzten Monaten entflammte in der Schweiz eine Diskussion um den (offenen) Architekturwettbewerb. Fabian Hörmann von EM2N Architekten meint, der offene Architekturwettbewerb gerate in Bedrängnis.

Date de publication
06-01-2020
Fabian Hörmann
dipl. ing. Architekt FH SIA AKBW, Associate, Mitglied der Geschäftsleitung EM2N

Der Architekturwettbewerb hat Tradition. Er ist das Fundament der Baukultur. Baukultur ist nicht einfach da und Baukultur ist nicht nur ein schönes Gebäude, sondern umfasst die Umgebung, in der wir uns tagaus tagein befinden und ergreift alle Situationen, in denen wir uns vom Bett bis zum Arbeitsplatz und zurück bewegen – also genauso unsere Wohnsituation wie unseren Arbeitsplatz, aber auch die funktionalen Infrastrukturen unserer Städte und insbesondere den Umgang mit den Umgebungen, die nicht bebaut, aber kultiviert werden.

Baukultur ist also Ausdruck der Erkenntnis und Anerkennung unserer Gesellschaft von der Dauerhaftigkeit der Investitionen, die notwendiger Weise materielle und monetäre Ressourcen binden und so den zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit Sicherheit, Schutz und Form verleihen.

Entwürfe müssen Zukunftsfähigkeit ermöglichen

Aus diesem Blickwinkel muss uns als Zivilisation und Kultur wichtig sein, was auch immer und an welchem Ort wir für die nächsten 100 Jahre bauen. Wir müssen also alles daran setzen, die bestmögliche Lösung in funktionaler, gestalterischer und finanzieller Hinsicht zu entwickeln. Diese Möglichkeit liefert uns der Architekturwettbewerb, der eine Vielzahl und Varianz an Lösungsansätzen aufzeigt.

Die Leistungen, die Aufwände, die wir Architekten in die Bearbeitung eines Wettbewerbs stecken sind immens. Da schwingt Idealismus und manches Mal eine Prise Selbstausbeutung mit, aber auch das Bewusstsein, für die Gestalt unserer Umwelt Verantwortung zu tragen.

Nicht immer – und gerade bei grossen Entwicklungsschüben einer Stadt oder Gesellschaft – scheinen auf den ersten Blick Entwürfe der Situation gerecht zu werden. Kritik wird vielleicht laut, auch Partikularinteressen schleichen auf die Bühne. Der Diskurs, das Verhandeln der Gesellschaft um ihre Weiterentwicklung ist wichtig. Aber wir dürfen einen Entwurf nicht nur an der Vergangenheit und Gegenwart eines Ortes messen, sondern müssen auch Zukunftsfähigkeit ermöglichen, Vorrausdenken, Projizieren.

Die Aufwände, die Architekten betreiben, werden oft als volkswirtschaftlicher Unsinn bezeichnet. Diese Gedanken kreuzen auch immer wieder meine Sphären. Holen wir Rat bei fünf oder mehr Ärzten, Anwälten oder lassen sie nicht nur einen Behandlungsplan ausarbeiten, sondern verlangen auch detaillierte Modelle unserer Gebisse, Probebohrungen oder Expertisen, um uns dann für einen der Vorschläge zu entscheiden? Vielleicht holen wir eine Zweitmeinung ein. In Ausnahmefällen vielleicht auch weitere.

Wieviel Geld versenken Konzerne in unproduktive Werbung?

Aber ich möchte auf etwas anderes hinaus: Wieviel Geld ihres Jahresbudgets versenken Pharmakonzerne oder Fensterhersteller, Bierbrauereien oder Detailhändler in unproduktive Werbung und Marketing mit dem fünfzigsten Werbeleinenbeutel von einer Messe, die keiner will und wegwirft; Billigsonnenschirmen, die nach einer Saison kollabieren? Das ist ökonomischer und teilweise ökologischer Wahnsinn!

Wieviel Geld, Zeit und Leidenschaft buttern hingegen Architekten in die Schaffung von Erkenntnissen um einen Ort und sein zukünftiges Potenzial? Neben der Generierung von Mehrwert lernen nicht nur die Auftraggeber, sondern auch das Quartier, die Stadtverwaltung, sogar andere Ortschaften, Kollegen aus Wettbewerbsbeiträgen.

Der Architekturwettbewerb: ein dynamisches Erkenntnistool

Die tiefgehende Beschäftigung mit einem Ort bringt immer wieder neue Erkenntnisse auch zum Umfeld hervor. So entstehen viele Puzzleteile eines Orts, einer Stadt. Zugleich ist jede Aufgabe - das ist das spannende im Berufsfeld der Architektur - ein Lernprozess und dient der Schärfung der Fähigkeiten der Entwerfenden und aller daran Beteiligten. Weiterbildung on the job - learning from reality.

Nicht nur Innovation, sondern auch das Erarbeiten eines Portfolios, die Entwicklung einer Haltung und das (Er)-finden von Themen im Spannungsfeld von Technik, Raum und Gestalt sind für den Erhalt unserer (Bau-)kultur und Zivilisation fundamental. Architekturwettbewerbe sind also wahrhafte Wissensgeneratoren!

Bezug nehmend auf das Votum unseres Kollegen Donald Jacob (vgl. «Ak­tu­el­le Wett­be­werbs­ver­fah­ren sind volks­wirt­schaft­li­cher Blöd­sinn», TEC21 50–51–52/2019) sollten wir aber über das «wie»  eine Diskussion führen. Der Mangel an offenen Verfahren ist (leider) eine politische Herausforderung, die wir nur mit permanenter Überzeugungsarbeit für die Verfahren (vgl. u.a. Infomaterial der Architektenkammer Baden-Württemberg 1 und 2) beeinflussen können.

Den Vorschlag eines Losverfahrens möchte ich aufgreifen und ausweiten: Anzahl Verfahren und in Wettbewerben aktive bzw. daran interessierte Büros stehen sich gegenüber einer Anzahl inaktiverer Büros. Vielleicht gelingt es, im Rahmen dieses Kontigents an «Startplätzen» ein Verfahren zu entwickeln, das mit einem Zertifikatshandel vergleichbar ist. Büros könnten ihre «Teilnahmeberechtigungen» anderen Büros auf einem anonymen Marktplatz zur Verfügung stellen. Eine Vergütung erfolgt möglicherweise nicht monetär, sondern anonym mit «Bildungspunkten» für Weiterbildungen.

Zum Vorschlag einer «wissenschaftlichen Bewertungsmatrix»: Schon heute werden Architekturwettbewerbe und die Vorprüfungen der eingereichten Beiträge durch die Anforderungen aus verschiedensten (und teilweise widersprüchlichen) Standards, Regelwerken, Normen und ortsspezifischen Einschränkungen massiv «deformiert». Nicht jeder «ordnungsgemässe» Beitrag entfaltet Qualitäten, die andere, «frechere» Beiträge offenbaren. Solange jedoch Defizite eines «frecheren» Beitrags heilbar sind – und diese Einschätzung traue ich unseren Berufskolleginnen und -kollegen in Jurys zu – sollten wir uns diese Beiträge nicht normgehorsam vorenthalten.

Ich befürchte, dass wir mit einer weiteren Bürokratisierung bzw. Technokratisierung des Architekturwettbewerbs mit einer «wissenschaftlichen Bewertungsmatrix» ihm einige seiner Qualitäten – nämlich jener von Offenheit für Unkonventionelles, Nicht-Offensichtlichem, Unvoreingenommenheit etc. – berauben. Hier lohnt sich ein Blick zu unserem grossen Nachbarn im Norden, wo bei manchen Verfahren schon anhand von Punktevergaben zu verschiedenen Bewertungskriterien mathematisch genau Beiträge vorgeprüft werden.

Allein auf dieser Mathematik darf aber kein Entscheid gefällt werden in einem Fach, dass eben nicht nur auf Fakten, sondern als räumlich-gestalterisch wirksame Disziplin auch anhand anderer Qualitäten beurteilt werden muss. Eine solch tiefgehende Vorprüfung bildet dann eine gute Diskussionsgrundlage für Entscheide, ob Verstösse eines «frechen Beitrags» heilbar sind.


Fabian Hörmann reagierte auf folgende Beiträge zum Schweizer Wettbewerbswesen:

espazium.ch: «Vorteile des Architekturwettberbs im offenen Verfahren»

hochparterre.ch: «Ideenwettbewerb 2.0 – für heikle Fälle»

hochparterre.ch: «Offener Wettbewerb 2019: Auf dem Weg zum Allzeittief»

espazium.ch: «Ak­tu­el­le Wett­be­werbs­ver­fah­ren sind volks­wirt­schaft­li­cher Blöd­sinn»

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