Gebäude pro­du­zie­ren oder Orte für Mens­chen?

Biennale Architettura 2018: «Freespace»

Die 18. Architekturbiennale appelliert an Planer und Architekten, ihre ethische und kreative Verantwortung wahrzunehmen – mit wandelbaren Bauten und echten Freiräumen. Goldener Löwe für den Schweizer Beitrag!

Date de publication
15-06-2018
Revision
20-06-2018

Das Motto der von den irischen Architektinnen Yvonne Farrell und Shelley McNamara kuratierten diesjährigen Architekturbiennale zu Venedig war der Freespace, freie Räume. Das rechte Thema zur rechten Zeit, denn die Frage der Freiräume, respektive der öffentlichen Räume, bewegt den jüngsten Städtebaudiskurs schon eine Weile. Am politischsten und direktesten zweifellos mit Fragen wie: «Wer kann es sich noch leisten, in der Stadt zu wohnen?» Und auch: «Wie viele echte öffentliche Räume gibt es noch in unseren Städten?» Man kann sich dem Thema Freiraum politisch genauso gut nähern wie gestalterisch. Es geht um soziale Segregation, Gentrifizierung, um nur scheinbar öffentliche oder tatsächliche öffentliche Plätze. Auch sichtbare und unsichtbare Mauern und Grenzen waren in Venedig ein wiederkehrendes Thema, etwa im brasilianischen oder im deutschen Pavillon.

In diese Themensetzung fügte sich der Beitrag «Svizzera 240», der der Schweiz den Goldenen Löwen dieser Biennale bescherte, ­bestens ein. Die vier Kuratoren des Pavillons setzten das Thema Freespace wortwörtlich um, indem sie das Gebäude in ein Labyrinth leerer, ineinander verschachtelter Neubauwohnungen verwandelten, in dem die Dimensio­nen aus den Fugen geraten scheinen.

Man betritt das Gebäude durch normal dimensionierte Räume, gerät aber nach wenigen Schritten in eine surreal überdimensionierte Wohnküche; die dortige Tür mit ihrer Klinke auf Überhöhe avancierte schnell zum Lieblingsmotiv für Spassfotos der Besucher. Ein schmales, niedriges Türchen führt weiter in eine Wohnlandschaft in Zwergenproportionen, deren Küchenzeile kaum bis zur Hüfte reicht. Ein Kontinuum bilden dagegen Parkett, weisse Gipskartonwände, Fussleisten und Einbauschränke – eine Collage jener leeren Raumwelten, die Alessandro Bosshard, Li Tavor, ­Matthew van de Ploeg und Ani Viher­vaara bei der Vorarbeit an ihrem Beitrag immer wieder auf den Websites von Schweizer Immobilien­anbietern, aber auch von Architekten fanden (vgl. «Wohnen szenografisch und soziologisch»).

Das Neue macht sich breit

Und die absurden Massstabssprünge innerhalb der Wohnlandschaft korrespondieren in der wirklichen Schweiz mit einem städtebaulichen Massstabssprung, der sich stets durch hoch in den Himmel ragende Bauprofile ankündigt – weil anstelle der abgebrochenen Vorgängerbauten fast immer ein viel höheres und voluminöseres Gebäude entsteht. Besser kann man die städtebaulichen Konsequenzen des aufgeheizten Schweizer Immobilienmarkts kaum versinnbildlichen. Und für die uniformen Neubauten müssen bestehende Freiräume oder günstige Wohnräume weichen. Womit man zur Frage gelangt, ob wir noch mehr solcher Standardangebote benötigen oder eben Wohnungen, Häuser, Quartiere, die bezahlbaren Raum bieten für die Vielfalt der heutigen Stadtgesellschaft.

Wie so etwas aussehen kann, zeigte die visuell fesselnde Präsentation im französischen Pavillon unter dem Titel «Grenzenlose Orte». Die Ausstellung stellt zehn Gebäude vor, alte Fabrikgelände, ein ehemaliges Kloster und ein früheres Postamt, die für kulturelle und soziale Zwecke umgenutzt wurden und in ihrem zweiten Leben einen urbanen Mehrwert schaffen, der weit in die angrenzenden Quartiere ausstrahlt. «Wollen wir Gebäude schaffen oder Orte?», formulierten die Kuratoren Nicola Delon, Julien Choppin und Sébastien Eymard ihre Leitfrage. Dieses Thema zog sich als roter Faden durch zahlreihe Präsentationen – Quartiere, Gebäude, Orte, die nicht dem Markt, sondern der Gemeinschaft dienen. Der Rundgang durch Pavillons, Arsenale und die  vielen Palazzi hinterlässt den Eindruck einer Mischung aus thesenhaften, politischen Statements, Dokumentarischem wie auch konkreten Architekturpräsentationen.

Architekturbiennale Venedig 2018
Täglich von 10 bis 18 Uhr, Fr. und Sa. bis 20 Uhr, bis 25.11.2018. Eintritt 25 €.
Weitere Infos: www.labiennale.org
Langfassung dieses Berichts: www.sia.ch/de/dienstleistungen/artikelbeitraege

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