Ge­richt als Ar­chi­tek­tur­jury?

Bundesgerichtsurteil zur «Ringling»-Siedlung in Zürich

Das Bundesgericht in Lausanne hat dem Zürcher Projekt «Ringling» die für Arealüberbauungen erforderliche «besonders gute Gestaltung» abgesprochen. Die Baubewilligung ist damit aufgehoben. Architekten wittern einen Skandal. Zu Recht?

Date de publication
27-10-2016
Revision
27-10-2016

Die Siedlung «Ringling» in Zürich wird nicht gebaut. Das Bundesgericht in Lau­sanne hat die Baubewilligung für die 277 Wohnungen im Stadtkreis Höngg aufgehoben. Es gibt damit den 80 Personen Recht, die in Lau­sanne Beschwerde eingelegt hatten. Das Projekt sei nicht besonders gut gestaltet. Die Baugesetze des Kantons Zürich verlangen dies jedoch für eine Arealüberbauung. Die geplante Siedlung ordne sich auch nicht in die Umgebung ein.

Die Enttäuschung bei den Projektinitianten ist gross. Die Gegner jubeln. Einige ­Architekten sind empört. Aus Solidarität oder Überzeugung? Die Fachwelt diskutiert den Fall zwar insgeheim, hält sich aber überraschend bedeckt. 

Bundesrichter als Juroren 

Ein Fall wie viele andere? Sicher nicht. Denn das Bundesgericht hat in diesem Fall über die gute Gestaltung eines Bauprojekts entschieden. Das ist ungewöhnlich. Und genau hier setzt die Kritik der Architektenschaft an. Ein Bundesgericht könne doch nicht über gute oder schlechte Gestaltung entscheiden, heisst es. Dafür fehle ihm die Kompetenz. 

Dem möchte man spontan zustimmen. Bei genauerem Hinsehen greift diese Kritik aber zu kurz. Denn folgte man dieser Logik, würde man unsere Gerichtsbarkeit per se infrage stellen. Denn Richter können in der Mehrzahl der Fälle gar keine Fachexperten sein. Vielmehr wägen sie zwischen den Interessen der Öffentlichkeit und denen Einzelner ab. Das erfordert Neutralität und Distanz zur Sache. Richter machen sich kundig, holen Expertenmeinungen ein. Sie verschaffen sich ein Gesamtbild, betrachten die Rechtslage und fällen dann ein Urteil. 

So weit die Theorie. Nun zur Praxis. Im vorliegenden Fall haben sich die Richter die ihrem Urteil zugrunde liegende Expertise in Zürich geholt, paradoxerweise bei jenen Vorinstanzen, die das Projekt uni­sono als bewilligungsfähig bezeichnet haben: die Zürcher Bausektion sowie das kantonale Baurekursgericht und das Verwaltungsgericht. Was haben sie zum Projekt gesagt?

«Kein Störfaktor» reicht nicht

Interessant ist das Urteil des Baurekursgerichts. Immerhin besteht es zur grossen Mehrheit aus Architekten und Ingenieuren – Fachleuten also. Der «Ringling» sei «kein Störfaktor», urteilt dieses und weist die Klage der Projektgegner ab. Genau an dieser Einschätzung werden sich die Bundesrichter später stossen. «Kein Störfaktor» sei eben zu wenig für eine Arealüberbauung, werden sie sagen. Und damit das Projekt zu Fall bringen. 

Wollte das Baurekursgericht mit dieser Wortwahl lediglich den Vorwurf der Gegner des Projekts zurückweisen? Oder zeigt sich darin leiser Zweifel an der guten städtebaulichen Eingliederung? Die Bundesrichter werden es in letzterem Sinn interpretiert haben. 

Qualität der städte­baulichen Einordnung

David Leuthold von den Zürcher pool Architekten, Mitglied im Ausschuss der Berufsgruppe Architektur des SIA, hat dazu eine klare Meinung: «Das Projekt ist eine sehr überzeugende Antwort auf die Problemstellung. In einem kontextlosen Siedlungsgebiet gelingt es den  ­Verfassern, überzeugende neue Räume zu entwerfen. Sie beobachten die Topografie genau, modellieren das vorgegebene Raumprogramm und die Rahmenbedingungen geschickt und schaffen eine überzeugende Siedlung mit hoher Identifikationskraft. – Ich wäre gern stolzer Verfasser dieses Projekts.» 

Der «Ringling» bildet als Blockrandbebauung eine eigenständige Raumfigur. Seine Typologie wie auch die Dimension wären neu gewesen im Quartier. Aber macht ihn das automatisch zu einem schlecht eingegliederten Projekt? Das Rüti­hofquartier ist geprägt von einer heterogenen Bebauungsstruktur. Eine vorherrschende Bauform, an die anzuknüpfen wäre, gibt es nicht. Die Verfasser des «Ringling» wählen daher eine mutige Lösung. Sie versuchen Identität zu schaffen in einem identitätsschwachen Umfeld. 

Schiessen sie damit über das Ziel hinaus? David Leuthold meint: nein. Darüber werden Fachleute wohl noch eine Weile diskutieren. Leuthold stört noch etwas anderes: «Dass die Interessen von Einzelpersonen aufgrund von unglücklichen juristischen Formulierungen die übergeordneten Interessen übersteuern, die anhand eines vorbild­lichen Verfahrens erarbeitet wurden, ist aus meiner Sicht massiv verfahrensschädigend.»

Erkenntnisse und Ernüchterung 

Der «Ringling» wird schon bald vergessen sein. Und mit ihm eine zehnjährige Planungsgeschichte. Was bleibt?

Erkenntnis Nummer eins: Anwohner haben das Recht, ihre Interessen notfalls vor Gericht durchzusetzen. Diese Möglichkeit garantiert ihnen unser Rechtsstaat. Das ist richtig und gut so. Sie hätten die Pflicht, dieses Recht umsichtig einzufordern. 

Erkenntnis Nummer zwei: Eine Stadt, eine Gemeinde, ein Kanton hat die Pflicht, für übergeordnete Interessen einzustehen. Das ist auch in Zukunft ihre vornehmliche Aufgabe. Der Rechte betroffener Minderheiten sollte sie sich dabei bewusst sein. 

Erkenntnis Nummer drei: Die Instanzen, die über Projekte und Rekurse entscheiden, müssen mit ihrer Urteilsbegründung Klarheit schaffen. Klarheit in den Argumenten und Klarheit in der Wortwahl. Das gilt insbesondere für Rekursgerichte, die mit Baufachleuten besetzt sind. Gelingt ihnen dies nicht, spielen sie nachfolgenden Instanzen in die Hände. Damit erweisen sie dem öffentlichen Interesse womöglich einen Bärendienst.

Ob das Urteil des Bundesgerichts ohne die ungeschickte Formulierung des Bau­rekursgerichts – «kein Störfaktor» – aber wirklich anders ausgefallen wäre? Zweifel daran sind angebracht.


«Kein Stör­faktor» reicht sehr wohl

Auf Anregung der Redaktion formuliert David Leuthold das folgende ergänzende Statement zum Beitrag von Mike Siering:

«Aus meiner Sicht ist die zitierte Aussage des Rekursgerichts, das Projekt sei ‹kein Störfaktor›, in diesem Fall eine Replik auf die Behauptung, das Projekt sei ein Störfaktor – und somit sehr wohl positiv zu werten und in einer ju­ristischen Auseinandersetzung als Qualitätszeugnis vollkommen ausreichend. Dementsprechend braucht es hier nicht nur eine juristische, sondern auch eine inhaltliche Klärung; insbesondere muss die Frage erlaubt sein, ob das Bundesgericht in der Lage ist, diesen Sachverhalt städtebaulich zu beurteilen, beziehungsweise ob es in einem solchen Fall sinnvoll und legitim ist, die fachlichen Gremien zu übersteuern. Zähneknirschend müssen wir hinnehmen, dass viele Kultur- und ­qualitätslose Bauten ohne jegliche öffentliche Debatten gebaut werden, während dieses mutige und weg­weisende Projekt, vorbildlich ent­wickelt nach den Prinzipien der hohen Standesregeln, von der obersten demokra­tischen Instanz gestoppt wird.»


Diskussion zum Thema Ringling

Die Zeitschrift «Hochparterre» widmet ihren kommenden Städtebau-­Stammtisch am 7. November dem Thema der gescheiterten Arealüberbauung «Ringling» in Zürich Höngg:

«Warum überstimmt das Bundes­gericht frühere Urteile, auch von Expertenjurys? Inwieweit bedroht das Urteil künftige städtebauliche und architektonische Mass­stabs­sprünge?» Dies sind zwei der Fragen aus der Ankündigung des Podiumsgesprächs, an dem Ursula Müller, Direktorin des Amts für Hochbauten der Stadt Zürich, Alt-Bundesrichter und Baurechtsexperte Heinz Aemis­egger, Raumplaner Jakob Maurer (ETH) sowie Architekt Adrian Streich (Jurymitglied des Projektwettbewerbs) teilnehmen werden.
 

Städtebau-Stammtisch zum Thema «Ringling»

Wo: Restaurant Desperado, ­Limmattalstrasse 215, Zürich Höngg
Wann: Montag, 7. November 2016, 19 Uhr
Infos und Anmeldung via: www.hochparterre.ch/veranstaltungen

Étiquettes

Sur ce sujet