Fuss­ball für Äs­the­ten

Nouveau stade de Bordeaux

Wer heuer zur Europameisterschaft nach Bordeaux anreist, kann die Spiele in dem eigens für diesen Anlass errichteten Stadion von Herzog & de Meuron verfolgen. Von aussen erinnert das monumentale Bauwerk an einen Tempel.

Date de publication
09-06-2016
Revision
16-11-2016
Viola John
Redaktorin TEC21 / Konstruktion und nachhaltiges Bauen

Als die Entscheidung fiel, Bordeaux zu einem der Austragungsorte der Europameisterschaft 2016 zu machen, nahmen die Veranstalter dies zum Anlass, vor den Toren der Stadt ein modernes Stadion zu errichten. Das alte Stadion Chaban-Delmas im Herzen der Stadt sollte nicht für die EM ausgebaut, sondern stattdessen teilweise umgenutzt werden und damit zur Aufwertung des innerstädtischen Quartiers beitragen.

Mit dem Bau des Nouveau Stade de Bordeaux wurden Herzog & de Meuron beauftragt. Ihre Neuinterpretation eines Fussballstadions überrascht in erster Linie durch dessen unkonventionelles Aussehen. Waren die Basler Architekten bislang für futuristische Stadion­entwürfe mit dynamischen Formen bekannt (Olympia­stadion in Peking, Allianz-Arena in München), sticht dieser Stadion­bau durch seine reduzierte Architektursprache heraus. Von aussen weckt das Gebäude Assoziationen an Tempel- oder Museumsbauten.

Minimalistische Architektur

Das Bauwerk beschränkt sich auf drei architektonische Hauptelemente: zum einen die monumentale Treppenanlage, die den Sockel des Bauwerks bildet. In diesem Sockelbereich sind die VIP-Lounges, Medienbereiche und Spielerräume untergebracht. Darauf folgt als zweites Element die schalenförmige, abgestufte Zuschauertribüne, die direkt in die Dachkonstruktion übergeht.

Dazwischen verläuft als drittes Element ein weisses Band, das sich an zahlreichen Säulen vorbeiwindet und die Versorgungseinrichtungen enthält. Die Säulen erfüllen unterschiedliche Funktionen: Manche sind auf Druck beansprucht und stützen die Tribünen, während andere das Stadiondach über Zugkräfte im Boden verankern. Auch die Entwässerung des Dachs erfolgt innen­liegend über die Säulen.

Über die weitläufige Treppenanlage gelangt man von aussen zunächst in einen offenen Bereich oberhalb des Sockels. Dieser Empfangsbereich dient als räum­licher Vermittler zwischen aussen und innen. Imbissstände sind im an den Säulen entlang mäandrierenden weissen Band untergebracht. Überdacht wird dieser Bereich von den Tribünen. Der lange Umgang des Empfangsbereichs erschliesst an allen vier Seiten des Bauwerks die Zugänge zu den Zuschauertribünen. 

Gute Sicht aufs Spielgeschehen

Der Zuschauerraum im Innern des Bauwerks ist stützenfrei ausgeführt und bietet von jedem der 42 000 Sitzplätze der Tribüne aus eine ungehinderte Sicht auf das Spielfeld. Ermöglicht wird dies durch die rückseitige Auskragung des Tribünendachs und die Ableitung der Kräfte über die zahlreichen Stützen im Empfangsbereich.

Die Tribünen bestehen aus zwei übereinanderliegenden Stufen mit Sitzreihen, die jeweils in vier Sektoren unterteilt und durch die leicht transparent wirkende Dachkonstruktion vor Witterungseinflüssen geschützt sind. Die unteren Reihen der Tribüne sind weniger als zehn Meter von den Spielern entfernt, und die direkt am Spielfeldrand befindlichen unteren Randbarrieren ermöglichen mit einer Höhe von einem ­Me­ter eine optimale Sicht auf das Spielfeld.

Die vor den Sitzreihen, auf Höhe des Empfangsbereichs, liegenden oberen Barrieren sind höher und daher aus Glas, um die Sicht nicht zu beeinträchtigen. Durch das schmale Klappdesign der Tribünensitze fallen die Abstände ­zwischen den einzelnen Sitzreihen vergleichsweise grosszügig aus – so sollen die Zuschauer den Weg ins Stadion hinein und wieder hinaus schnell und sicher zurücklegen können. 

Bauvorgang und neuer Name

Errichtet wurde das Stadion in acht Phasen, in der Zeit von 2012 bis 2015. Die Grundsteinlegung fand am 15. April 2013 statt. Nachdem der Bauplatz vorbereitet war (Phase 1), folgten zunächst die Erdarbeiten und Fun­damente (Phase 2). Es wurden insgesamt 945 Pfähle ­mit einer durchschnittlichen Tiefe von 22 m gesetzt. ­Anschliessend wurden die tragenden Konstruktionselemente (Phase 3) und das Metallständerwerk mit den Tribünen errichtet (Phase 4).

Hierzu wurden sieben feste Turmkräne aufgebaut und ein Betonwerk eingerichtet, um direkt vor Ort Betonelemente und -platten erstellen zu können. Die niedrigen Stützen auf der Ost- und Westseite wurden hauptsächlich aus Stahlbeton gefertigt, während auf der Nord- und Südseite vorrangig Metallständer zum Einsatz kamen. Über 3600 Stufenelemente wurden vor Ort hergestellt und insgesamt 24 km Tribünen platziert. Danach wurde die Dachkonstruktion errichtet (Phase 5). Hierfür wurden die einzelnen Stahlfachwerkelemente montiert und mit einer Metalldachhaut versehen.

Anschliessend begannen die technischen Ausbauarbeiten (Phase 6), wobei neben Innenraumbekleidungen und Fussböden auch Videoüberwachung, Zutrittskontrolle, Beleuchtung, Soundsystem und Grossbildschirm installiert wurden. Nachdem das Gebäude fertiggestelt war, ging es an die Gestaltung des 4 ha grossen Aussenraums mit Pflanzen, Gehwegen, Stras­senmöbeln und Beleuchtung (Phase 7).

Abschliessend wurden Rasen und Bestuhlung realisiert und die finale Testphase eingeleitet, während der auch Sicherheitsaspekte im laufenden Betrieb optimiert wurden (Phase 8). Der Hybridrasen ist halb synthetisch, halb natürlich, und sein Substrat besteht aus Korkkügelchen, Synthetikfasern und Quarzsand. Durch die Synthetikfasern wird die Rasenfläche besonders widerstandsfähig.

Die Namensrechte für das Nouveau Stade de Bordeaux wurden an einen Sponsor verkauft. Seit September 2015 trägt das Stadion nun offiziell den Namen «Matmut Atlantique». 

Que les jeux commencent!

Das Stadion ist für eine maximale Nutzungsflexibilität ausgelegt, um neben Sportveranstaltungen auch Konzerten eine Bühne zu bieten. Seit der Eröffnung im Mai 2015 wird es immer wieder für Events genutzt. Inwieweit die flexible Nutzungsmöglichkeit der Sportstätte allerdings auch in den kommenden Jahren nach der Europameisterschaft Besucher anlocken und der Stadt Bordeaux zu Glanz verhelfen wird, bleibt abzuwarten. Sehenswert ist das Stadion mit dem unkonventionellen Aussehen auf jeden Fall, und für die EM 2016 heisst es jetzt erst einmal: Lasset die Spiele beginnen!

Am Bau Beteiligte


Bauherrschaft (PPP)
Stadt Bordeaux; Region Aquitanien; Bordeaux Métropole; Girondins Bordeaux; M6

Architektur
Herzog & de Meuron, Paris; Groupe 6, Grenoble

Bauunternehmer
SOGEA Sud-Ouest Hydraulique, Pessac; Castel & Fromaget, Fleurance; GTM Bâtiment Aquitaine, Merignac; GTM TP GC, Merignec; Razel-Bec, Orsay; SEG Fayat, Floirac

Tragwerksplanung
Cabinet Jaillet-Rouby, Orléans; Structures Ile de France, Monrouge

HLKE-Planung
Egis Bâtiment Sud-Ouest, Toulouse


Interview: «Man merkt gar nicht, dass es ein Fussballstadion ist»

Dani Wyler kommentiert seit 1988 für das Schweizer Radio und Fernsehen nationale und internationale Matches.
 

TEC21: Herr Wyler, als Fussballkommentator des SRF kennen Sie die EM-Stadien in Frankreich gut und waren auch schon im neuen Stadion in Bordeaux. Welche Anforderungen muss ein EM-Stadion Ihrer Ansicht nach unbedingt erfüllen, und inwieweit ist dies beim Stadion in Bordeaux geglückt?
Dani Wyler: Entscheidend aus Sicht des Kommentators sind eine gute Erreichbarkeit, gute Infrastruktur und gute Beschilderung, damit man nicht nur die Kommentarposition, sondern auch die verschiedenen Räumlichkeiten für Interviews schnell finden kann – und natürlich eine optimale Sicht auf das Spielfeld. Das Stadion entspricht mit 42 000 Personen Fassungsvermögen sicherlich den Anforderungen an eine Europameisterschaft. Es ist sehr gut an den öffentlichen Verkehr und auch an den Privatverkehr angebunden. Die Sicht ist optimal. Auch für den Kommentator ist das ein Erlebnis. Das einzige Problem: Weil ich zunächst den Medien-Eingang nicht gefunden habe, musste ich um das ganze Stadion herumlaufen.
 

TEC21: Wie war denn Ihr erster Eindruck, als Sie vor dem neuen Stadion standen?
Dani Wyler: Auf den ersten Blick, aus einigem Abstand, habe ich gedacht: Das kann doch nicht das Fussballstadion sein! Es sieht eigentlich eher wie ein Modern-Art-Museum aus. Ein viereckiger Kasten mit Säulen. Und auch als ich direkt davor stand, merkte ich erst an den Beschriftungen, dass es sich um das Stadion handelte.
 

TEC21: Die Architekten haben sich darum bemüht, fliessende Räume und Sichtbezüge zwischen Aussen- und Innenraum herzustellen. Ist ihnen dies gelungen? Beschreiben Sie uns doch bitte einmal die räumliche Wirkung beim Betreten des Stadions.
Dani Wyler: Was mir aufgefallen ist: Aussen und Innen sind zwei Welten. Von aussen ist das Stadion nicht als solches erkennbar, und von innen ist es ein Fussballstadion der etwas anderen Art: Es sieht aus wie eine Computeranimation, alles wirkt ein bisschen steril. Auch in den Pressebereichen im Sockel des Stadions. Man merkt, es ist noch alles neu, und da wurde noch nicht richtig gelebt. Gerade dieser starke Kontrast zwischen aussen und innen hat bei mir den grössten Eindruck hinterlassen. Es deutet von aussen nichts auf ein Fussballstadion hin. Von daher ist den Architekten wirklich etwas Neues gelungen, was ich bisher so nicht gesehen habe. Und ich habe schon viele Stadien auf der ganzen Welt gesehen, alte, neue, auch wirklich moderne Stadien.
 

TEC21: Wie gut funktioniert die Architektur, wenn das Stadion bespielt wird? Und wie erlebbar ist die räumliche Wirkung noch, wenn Zehntausende von Zuschauern sich durch den Empfangsbereich und auf die Tribünen drängen?
Dani Wyler: Es gibt gute Stimmung im Innern, und das ist für mich als Kommentator entscheidend. Die Zuschauerrampen gehen auf allen vier Seiten relativ steil hoch. Dadurch wird der Zuschauerbereich sehr kompakt, und die Zuschauer sind nah an den Spielern.
 

TEC21: Wo sehen Sie Verbesserungspotenzial? Oder was sind Aspekte, in denen Sie andere EM-Stadien eher überzeugt haben?
Dani Wyler: Die Nostalgie. Ich habe gern Stadien, die eine Geschichte haben, und dieses Stadion hat noch keine. Aber das ist natürlich die Sicht eines Fussballfans.
 

TEC21: Stichwort Nostalgie: Bei vielen EM-Stadien wurde ja auf eine Instandset­zung des Bestands statt eines Neubaus gesetzt. Wäre dies Ihrer Meinung nach eine Möglichkeit für Bordeaux gewesen? Welche Vorteile hat der Neubau gegenüber einer Sanierung des alten Stadions (Chaban-Delmas) in Ihren Augen gebracht?
Dani Wyler: Ich war vor 25 Jahren im alten Stadion in Bordeaux, einem ganz klassischen Fussballstadion, und ich glaube nicht, dass es den heutigen Sicherheitsanforderungen genügt hätte. Es braucht heute spezielle Korridore, denn Medien und Spieler müssen von den Zuschauern absolut abgeschirmt werden. Das wäre in dem alten Stadion vermutlich nicht möglich gewesen.


Das Interview führte Viola John.


Punktuelle Nachhaltigkeit

In puncto Nachhaltigkeit hat das Stadion von Bordeaux bereits für Negativschlagzeilen gesorgt. Es wurde in einem Naturschutzgebiet errichtet, sodass mehr als 10 ha Fläche mit besonders hohem ökologischem Wert für Flora und Fauna dem Bau weichen mussten. Zudem wurden hauptsächlich Materialien verwendet, die in ihrer Herstel­lung sehr energieintensiv sind: 644 Metallsäulen, 12000 Tonnen an Metallbedachung und 41000 m3 Stahlbeton.

Zwar mussten auch Nachhaltigkeitsaspekte berücksichtigt werden, um die französischen Bestimmungen zu nachhaltiger Entwicklung umzusetzen, allerdings wurden hierfür lediglich einzelne, isolierte Strategien für die Energiegewinnung, das Wasser- und Abfallmanagement sowie zur Mobilität verfolgt.

Energie: Als regenerative Energiequelle zur partiellen Deckung des Strombedarfs dient eine Photovoltaik­anlage über dem Parkplatzbereich mit 800 Parkplätzen vor dem Stadion.

Wasser: Statt Trinkwasser wird zur Spielfeldbewässerung und für die sanitären Einrichtungen zum Teil Wasser aus vor Ort installierten Regenwassersammelanlagen verwendet. Die vier Regenwassertanks haben eine Kapazität von insgesamt 800 m3.

Mobilität: Für eine gute Erreichbarkeit des Stadions mit öffentlichen Verkehrsmitteln wurde das Strassenbahn­netz von Bordeaux ausgebaut.

Da solche punktuellen Massnahmen nicht ausreichen, um einem Gebäude das Prädikat «nachhaltig» zu ­verleihen, wird das Stadion in dieser Hinsicht wohl auch weiterhin Gegenstand kontroverser Diskussionen bleiben.


Kapazität kostet

Anlässlich der Fussball-Europameisterschaft wurden drei Stadien neu errichtet, fünf umgebaut und das Stade de France von 1998 im Originalzustand belassen. Umbauten erhöhen die Kapazität nur bedingt (Saint-Etienne, Lens) und werden mit der Tiefe des Eingriffs überproportional teurer: Für den Umbau in Marseille hätte man ein neues Stadion errichten können! Der finanzielle Aspekt ist jedoch nur ein Teil der Gleichung, viel mehr zählt die positive Auswirkung solcher Anlagen auf die Stadt und ihre Identität.

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