«Stadt­pla­nung ist hoch­po­li­tisch»

Raumplanung und Städtebau in der Praxis

Welche Einflüsse sind entscheidend in der Stadtplanung? Und woran scheitert der Städtebau in der Agglomeration? Drei Experten diskutieren über aktuelle Fragen in der städtebaulichen Entwicklung und die grossen Herausforderungen in der Planungspraxis.

Date de publication
16-11-2015
Revision
17-11-2015

TEC21: Die Grenzen zwischen Städtebau und Raumplanung scheinen fliessend. Im interdisziplinären Kontext fällt auf, dass die Begriffe wenig differenziert verwendet werden. Wie würden Sie Städtebau und Raumplanung charakterisieren? Was sind für Sie die wesentlichen Unterschiede? 
Marcel Meili: Für mich ist der Unterschied der, dass Städtebau einen Projektcharakter hat im weitesten Sinne; während Raumplanung die Rahmenbedingungen festlegt über grosse Räume, gesetzliche, aber auch strategische, etwa Erschliessung und Nutzungsverteilung. Städtebau basiert auf einer entwerferischen Dimension, indem auch architek­tonische Begriffe wie Körperlichkeit, Raumpropor­tionen, Gebäudehöhen, Massstäblichkeit, Nutzungsverteilungen, Typologien usw. eine Rolle spielen. Das war schon bei grossen Städtebauern wie etwa Sitte, Fischer oder Cerda so, meist auch bei Le Corbusier. Das Vokabular der Raumplanung ist etwas vollkommen anderes als im Städtebau.
Patrick Gmür: Der Unterschied betrifft die Massstabsebene. Im Städtebau geht es um Baukörper, Volumen und die Räume dazwischen sowie die damit verbundenen architektonischen Fragen. In diesem Sinn ist der Städtebau dreidimensional, wohingegen die Raumplanung, die strategisch und behördenverbindlich ist und gesetzliche Vorgaben formuliert, eher zweidimensional zu begreifen ist. Ihre Instrumente bilden die Grundlagen, auf deren Basis man sich mit den konkreten städtebaulichen Fragen auseinandersetzt. Die Raumplanung besitzt eine gewisse Unschärfe, während der Städtebau genaue räumliche Vorstellungen entwickelt. Bezieht man diese auf die einzelne Parzelle, kommen die jeweiligen Besitzverhältnisse ins Spiel – und ab diesem Punkt wird es unglaublich präzise, mit maximaler Aus­nutzung, Grenzabständen, Gebäudehöhen usw.
Wilhelm Natrup: In der Raumplanung differenziere ich unterschiedliche Ebenen: die örtliche Raumplanung, meistens nennt man das Stadtplanung, und die überörtliche Raumplanung. Mit der Raumplanung sind die Prozesse und Instrumente verbunden, die notwendig sind, um in der demokratischen Entscheidung die verschiedenen Interessen gegen­einander abzuwägen und die städtebaulichen Vor­stellungen umzusetzen. Darum ist Raumplanung Entscheidvorbereitung im politischen Prozess, Städtebau hingegen ist die Disziplin der baulich-räumlichen Gestaltung. Das darf man aus meiner Sicht nicht immer vermischen. Raumplanung und Städtebau ergänzen sich, sie sind keine Gegensätze.

 

TEC21: Es gibt die Ebene der Architektur, die sich auf ein Projekt und eine spezifische Parzelle bezieht, und es gibt die Ebene der Raumplanung, die die räumliche Entwicklung im grossen Kontext koordiniert. Doch die Ebene dazwischen, Städtebau im Sinn von Architektur auf einer grösseren Massstabsebene, stellt eine ganz andere Herausforderung dar. Denken die Architekten über die einzelne Parzelle hinaus in diesem Massstab? 
Gmür: Wir hatten heute, zusammen mit auswärtigen Fachexperten, im Amt für Städtebau eine Sitzung. Dort haben wir die Architekturbüros ausgewählt, die sich für Verdichtungsstudien im Zusammenhang mit dem kommunalen Richtplan beworben hatten. Aus den vielen und sehr breiten Bewerbungen schliesse ich, dass das Interesse für diese grössere Massstabsebene durchaus da ist und der Wille, ein ganzes Quartier städtebaulich und räumlich weiterzuentwickeln, vorhanden ist. Darüber haben wir uns sehr gefreut!
Meili: Ja, dieses Bewusstsein gibt es. In diesen Initiativen geht es genau darum, den Zwischenbereich zwischen dem Zonenplan und der Gestalt eines Quartiers aufzuklären. Die Herausforderung besteht darin, herauszufinden, wo der Zonenplan etwa in der Frage der Verdichtung zu einer Gestalt drängt, die so vielleicht gar nicht erwünscht ist. Dennoch wird in diesen Verfahren deutlich, dass die Verfasser den architektonischen Gehalt gegenüber dem Massstab, den es dort zu bearbeiten gilt, eher überschätzen. Das ist ein Grundfehler, denn auch der Städtebau wirft Strukturfragen eines grösseren Massstabs auf, die den Projektcharakter sprengen und überformen. In diesem Punkt berühren sich Raumplanung und Städtebau. Städtebau muss die Form mitverhandeln, oder er muss eine angemessene Verallgemeinerbarkeit der Antworten finden.
Gmür: Architektinnen, Architekten arbeiten meist mit einem Grundeigentümer oder Investor zusammen, der ein Areal oder ein Grundstück hat. Dort liegt ihre Aufgabenstellung. Es geht bei ihnen – schon aufgrund ihres Auftrags – um die einzelne Parzelle. Der Investor oder Eigentümer geht also vom Kleinen ins Grosse. Der Raumplaner hingegen kommt umgekehrt von der übergeordneten Massstabsebene und geht ins Kleine. Es sind ganz unterschiedliche Ausgangspositionen und Arbeitsbedingungen. Dennoch behaupte ich: Das Ziel eines Architekten sollte immer sein, ein Haus zu entwerfen, das auf seine Umgebung oder im besten Fall auf das ganze Quartier strahlt. 

 

TEC21: Probleme zeigen sich vor allem in der räumlichen Entwicklung über die Grenzen der Stadt hinaus, in der Agglomeration. Wer macht dort Städtebau? Warum sieht es so aus, wie es aussieht?
Natrup: Das Problem ist vielschichtig. Es ist eine Frage der personellen Ressourcen und Kontinuitäten, und es gibt die politische Ebene. Die Haltung ist in Städten oder Gemeinden, die ein Parlament haben, eine andere, hier findet man meistens auch eine grössere Professionalisierung. In den Gemeinden gibt es wenig Personal, das fachlich die Interessen wahrnehmen kann. Es gibt zwar Planer, die beauftragt sind, aber sie haben eine andere Legitimation als eine Verwaltung. Wenn die Gemeinden nur einen Bausekretär haben, der allein alles vorbereitet und macht, dann gibt es diese Interessenswahrnehmung der Öffentlichkeit nicht. Die Politiker verlassen sich darauf, dass das ausreichend war, was da gelaufen ist. Darin sehe ich einen grossen Mangel.
Gmür: Die Verantwortung liegt bei den Städten und Gemeinden. Wir können immer nur das initiieren und umsetzen, was auch politisch unterstützt wird. Dieser politische Zusammenhang ist nicht zu unterschätzen. Wenn ein Vorhaben nicht gestützt wird, dann haben wir wenig Chancen, es durchzubringen.
Natrup: Ausserdem muss man sehen, dass 90% aller Bauten aufgrund der Bau- und Zonenordnung in den Gemeinden bewilligt werden und nicht mit Sondernutzungsplanung, zum Beispiel mit Gestaltungsplänen. Wenn wir einmal die Bau- und Zonenordnung genehmigt haben, dann kommt die Gemeinde vielleicht 15 Jahre nicht zu uns, wir spielen keine Rolle mehr. Bei grossen Arealen gibt es zwar Gestaltungspläne, doch das Bild der Gemeinden wird über die Alltagsarchitektur viel stärker geprägt – und da redet eigentlich keiner mit. 

 

«Wir können nur das initiieren und umsetzen, was auch politisch unterstützt wird.»
Patrick Gmür

 

TEC21: Ist es auch ein Problem der Planungsinstrumente? Wären gesetzliche Regelungen zum Städtebau hilfreich? Oder ist es eine Frage des kulturellen Bewusstseins?
Natrup: Ich befürworte, die Kompetenzen auf der untersten Ebene zu lassen. Es wird nicht besser, wenn man das an den Kanton oder Bund delegiert und sagt, es gibt jetzt einen Bundesbeauftragten für Qualität im Städtebau. Wir müssen die Gemeinden befähigen. Viele Gemeinden, auch im Kanton Zürich, machen das schon, indem sie Orts- oder Stadtbildkommissionen einrichten – aber aus meiner Sicht sind es zu wenige. 
Meili: Falls Städtebau scheitert, liegt das sehr oft weniger an den gesetzlichen Regelungen als an den stadträumlich willkürlich zersplitterten Zuständigkeiten. Im Gemeindeföderalismus ist es immer eine Frage, wer zuständig ist und wer welche Rechte abtritt. In einer Metropolitanregion wirken politische Grenzen meist zufällig und scheiden Räume aus, deren städtebauliche Identität völlig unklar ist. Aus der Sicht einer Agglomerationsgemeinde heraus ist es fast unmöglich, einen sinnvollen Platz, eine klare Identität in der Metropolitanregion zu definieren: Wer sind wir, und was wollen wir städtebaulich? Das ist eine Frage eines übergeordneten Plans, in dem Recht geschaffen wird. Solange es keine politische Übereinkunft darüber gibt, was eigentlich das Wesen einer Metropolitanregion ausmacht, wird der Städtebau heillos auflaufen. An diesem Punkt hat das «städtebauliche Porträt» des Studio Basel angesetzt.
Natrup: Es hängt sehr stark an Personen und am Bewusstsein, wenn man qualitätvolle Entwicklung in den Gemeinden machen will. Es gibt immer Phasen, da sind plötzlich Personen am Ruder, die in dieser Zeit eine zukunftsweise Entwicklung in ihren Gemeinden erreichen. Aber die Prozesse sind langwierig, und wenn diese Personen nicht dabeibleiben, dann bricht das wieder ab.
Meili: Dass zum Beispiel Zürich städtebaulich den Anschluss an die umgebenden Gemeinden findet, halte ich für eine der bedeutendsten Aufgaben des kommunalen Städtebaus. Nur muss man dabei von einem enormen Gefälle im städtebaulichen Know-how zwischen den Gemeindebauämtern und der Stadt ausgehen.

 

«Es hängt sehr stark an Personen und am Bewusstsein, wenn man qualitätvolle Entwicklung in den Gemeinden machen will.»
Wilhelm Natrup

 

TEC21: Das kann man sich vorstellen. Was bedeutet das?
Meili: Eine grossräumige städtebauliche Qualitätssteigerung ist im Raum Zürich praktisch nur von den städtischen Abteilungen ausgehend vorstellbar. Dort ist so viel Manpower und Fachwissen konzentriert, dass dieser Apparat wohl in der Lage wäre, grössere städtebauliche Raumzusammenhänge aufzubauen. Gemeindeämter sind damit überfordert. Einen solchen Eingriff in die Gemeindeautonomie lassen sich die Gemeinden allerdings traditionell nicht bieten. Sie verteidigen ihre Steuerprivilegien und das Gemeindebaureglement. Ich glaube, es ist nicht dramatisiert zu behaupten, dass ein Städtebau, der sich um urban sinnvolle Planungsräume kümmert, in der Schweiz immer am Gemeindeföderalismus scheitern wird. Dass selbst örtliche Gemeindekooperationen sich so schwertun, belast­bare Ergebnisse hervorzubringen, stützt diese These.
Gmür: Du hast es gut beschrieben, Marcel. Wenn die Leute hören, dass ich das Amt für Städtebau vertrete, werde ich oft gefragt, wie viele Leute in diesem Amt arbeiten. Ich sage 125. Entgegnet wird mir: Wir haben nur einen Bausekretär, der auch noch das Protokoll der Gemeinderatssitzung schreibt. Diese eine Person macht alles. Wenn wir nun eine gemeinsame Sitzung haben, komme ich mit all meinen Fachspezialistinnen und Fachspezialisten, während uns gegenüber eine einzelne Person sitzt. Dies erzeugt – verständlicherweise – Vorbehalte. Es ist das Bild von David und Goliath, das hier aufblitzt. Ganz klar gibt es aber auch eine politische Dimension: Wenn man die politische Karte von Zürich und der gesamten Schweiz anschaut, stellt man schnell fest, die Städte sind meistens rot-grün dominiert und auf dem Land regieren  …
Meili: …  die Konservativen. Da fangen die Diskussionen an. 

 

TEC21: Welche Möglichkeiten gäbe es aus Ihrer Sicht, die städtebauliche Entwicklung in der Agglomeration zu steuern und positiv zu beeinflussen?
Gmür: In der Theorie könnte man viel machen, aber die Wirklichkeit sieht anders aus: Die Entwickler und Investoren haben längst gemerkt, dass es in
Zürich fast keine freien Grundstücke mehr gibt. Also weichen sie in die Agglomeration aus. Schlieren und Dietikon sind gute Beispiele dafür. Die städtebaulichen Inputs in der Agglomeration sind in der Folge also meist nicht von der Gemeinde initiiert, sondern von Investoren oder Grundeigentümern. Sie erhoffen sich in erster Linie, mit hoher Dichte bzw. Ausnützung, Geld zu verdienen. Die öffentliche Hand, die Gemeinde, spielt im besten Fall nebenbei mit – wenn sie überhaupt die Möglichkeit hat. Auch diesen Herausforderungen müssen wir uns als Stadt stellen. Eben: Man könnte viel machen, und es gäbe die Möglichkeit, über die Gemeindegrenzen ­hinaus die städtebauliche Entwicklung positiv zu beeinflussen. Die entscheidende Frage ist jedoch, ob der Wille dazu da ist – vor allem der politische Wille.

 

TEC21: Es setzt auch voraus, dass die Verantwortung von den Kommunen und Städten wahrgenommen wird?
Natrup: Die städtebaulichen Fragen unterliegen der kommunalen Planungshoheit. Es liegt in der Verantwortung der Gemeinden, ob sie ihre Ortsplaner oder Experten beiziehen wollen – oder ob sie den Investor allein machen lassen. Dann wird das Projekt in der Gemeinde vom Bausekretär auf Übereinstimmung mit dem Planungs- und Baurecht geprüft, und wir müssen es genehmigen. Wenn die Gemeinden die übergeordneten Vorgaben nicht einhalten, müssen sie die Planung überarbeiten. Wir machen Auflagen und empfehlen, eine qualifizierte Person beizuziehen, letztlich jedoch ist es Sache der Gemeinde. Aber sie wissen mittlerweile, dass sie mit uns ein Problem bekommen, wenn die nächste Vorprüfung ähnlich ausfällt: Wir genehmigen nicht. Sie müssten dann, das machen sie zum Teil auch, gegen den Kanton die Genehmigung einklagen. Das ist alles sehr rechtsstaatlich, was wir da machen.
Gmür: Ja, das ist der Föderalismus! Ob die Kommune ihre Verantwortung jedoch stets wahrnehmen kann, so wie wir uns das vorstellen, das ist eine andere Frage. Mit der Individualisierung der Gesellschaft ist vieles komplexer und komplizierter geworden. Darum ist es auch schwierig, eine gemeinsame Vorstellung zu entwickeln und, wenn wir jetzt vom Städtebau reden, eine gemeinsame Typologie oder Morphologie festzulegen. Meine grössten Diskussionen habe ich mit den Architektinnen und Architekten selbst. Jeder, jede hat eine spezifische Meinung. Und sie alle möchten möglichst viele Freiheiten, um das zu machen, was sie für richtig empfinden.

 

TEC21: Der Verlust von gemeinsamen gesellschaftlichen Vorstellungen, der Zusammenhang von Stadt­planung und Politik – was bedeutet das in der
Planungspraxis? Wie gehen Sie damit um? 

Gmür: Man kann dies gut am Beispiel der Thurgauerstrasse (Leutschenbach) veranschaulichen. Dort hat das Amt für Städtebau eine Testplanung durchgeführt. Es gibt einerseits ein 65 000 Quadratmeter grosses Grundstück und andererseits einen Gemeinderat, der einen Gestaltungsplan fordert. In einem aufwendigen Verfahren haben wir ausgelotet, was man an diesem Ort machen soll, welche Nutzungen möglich sind und welche Dichte die richtige ist. Auf der Basis der vorliegenden Testplanung müssen wir nun einen Gestaltungsplan erstellen. Da stellt sich die Frage: Machen wir dies möglichst einfach, indem wir Baufelder definieren, auf denen man frei projektieren kann, oder braucht es eine Form von Zusammenhalt, von Regeln? Das führt uns wiederum zur grundlegenden Frage, ob die Architektinnenn und Architekten tatsächlich städtebaulich denken und um die Sicht auf das Ganze besorgt sind.
Meili: Ja, es braucht eine Kohäsion. Es gab eine Expertenrunde, die die Frage diskutiert hat, wie eng wir das Korsett stricken sollen. Das waren namhafte Experten, und das Ergebnis ist klar gewesen: Man muss es sehr eng stricken, damit die städtebauliche Konzeption des Testentwurfs in Zukunft eine Rolle spielen wird: der grosse Massstab, die geschlossene Strassenfront, die Wohnhöfe. Daran arbeiten wir jetzt, das stricken wir relativ eng und legen es der Stadt vor. Das hat zur Folge, dass das Ausbrechen von Architekten aus individuellen Motiven heraus recht schwierig wird. An dieser Stelle sind wir nun selbst herausgefordert, dem Städtebau jenen Atem zu lassen, den er zu seiner Verwirklichung benötigt.
Gmür: Es ist auch eine Herausforderung, diesen Gestaltungsplan dann durch den Gemeinderat zu bringen und dort die Sinnhaftigkeit der Regeln zu erklären. Im vorliegenden Fall ist es eine grosse Chance, einmal 900 Meter Stadt am Stück und aus einem Guss zu gestalten. Das wäre etwas Einzigartiges und Starkes.

 

TEC21: Braucht man Vorgaben und Regeln, um diesen Prozess zu kontrollieren?
Gmür: Ja, es braucht diese, um einen Zusammenhalt herzustellen, davon bin ich aufgrund zahlreicher Erfahrungen – Europaallee, Manegg – überzeugt. Aber das wird oft ins Gegenteil gekehrt und uns negativ ausgelegt. Es heisst dann, dass wir zu strenge Vorgaben formulieren, nur um zu kontrollieren.
Meili: Die Frage der gesellschaftlichen Konventionen ist von grosser Bedeutung. Wenn es natürlich keine Übereinkunft darüber gibt, was eine Stadt ausmacht, dann ist die umgekehrte Frage: Woher kommen diese Regeln, die man da festlegt? In der Schweiz sind viele Stadtbewohner in ihrer Seele gar keine Städter. Stattdessen gibt es endlos viele Meinungen, wie eine halbländliche «Stadt» ohne jede Wucht weiterzubauen ist. Vor dieser grossen Herausforderung steht die Stadt jetzt. Sie beruft sich darauf, die Gegebenheiten des Bestands neu zu interpretieren. Das ist vermutlich die einzige Art, wie man irgendwann Zustimmung organisieren kann: indem man eine städtebauliche Gestalt postuliert, die ihre Wurzeln in der Geschichte der Stadt haben muss. 

 

«Die Frage der gesellschaftlichen Konventionen ist von grosser Bedeutung.»
Marcel Meili

 

TEC21: Wie wäre das in der Praxis machbar? 
Meili: Die Stadt Zürich ist genau daran, das zu machen. Nehmen wir die Verdichtungsstudien, die hier im Amt für Städtebau gerade gemacht werden. Da wird in grossen Gebieten gearbeitet, in denen man sich mit dem Bestand auseinandersetzen muss. Es geht darum, ein Regelwerk (Anm. d. Red.: Kommunaler Richtplan) zu erarbeiten, das an bestimmte Bedingungen geknüpft ist, damit auch ein politischer Konsens herbeigeführt werden kann, nämlich Verdichtung sicherzustellen. Ich wüsste nicht, wie man das anders machen könnte, als dass man die konkrete Auseinandersetzung mit dem Bestand sucht. 

 

TEC21: In unserer Diskussion kristallisiert sich heraus, dass der Ebene der Politik eine grosse Bedeutung zukommt. In welchem Zusammenhang stehen Stadtplanung, Raumplanung und Politik?
Gmür: Stadtplanung ist hochpolitisch. Wenn es um Planung geht, ob Raumplanung oder Städtebau, dann geht es immer auch um Politik. Es ist ganz wichtig, sich dessen stets bewusst zu sein. Meine Rolle besteht vor allem darin, dem Stadt-, aber auch dem Gemeinderat zu vermitteln, was die Stadtplanung macht und wohin sie will. Im Gegenzug hole ich dort die Unterstützung, die es braucht, um unsere Stadt weiterzuentwickeln – so wie dies wahrscheinlich deine Aufgabe ist in Bezug auf den Regierungsrat.
Natrup: Ja, ganz genau. 
Gmür: Das Amt für Städtebau ist aus meiner Sicht eines der politischsten Ämter in der Stadt Zürich, wir haben extrem viele Schnittstellen zur Politik …
Natrup: …  und das gilt analog für die Raum­planung im Kanton. Wir sind das Amt, das mit den entsprechenden Themenfeldern sehr oft im Regierungsrat vertreten ist, es ist sehr politisch. 
Gmür: Man könnte es auch anders sagen: ohne Politik keinen Städtebau ...
Natrup: … und keine Stadtplanung. 

 

Patrick Gmür ist seit 2009 Direktor des Amts für Städtebau in Zürich und verantwortet inhaltlich den kommunalen Richtplan. Nach dem Architekturstudium an der ETH Zürich führte er von 1989 bis 2009 ein Architekturbüro in Zürich, bis 1998 mit Regula Lüscher. 1998–2008 war er zudem Professor an der Fachhochschule Nordwestschweiz.

Marcel Meili führt seit 1987 mit Markus Peter ein Architekturbüro in Zürich, seit 2007 auch in München. Er studierte Architektur an der ETH Zürich. Nach internationaler Lehr­tätigkeit wurde er 1999 ordentlicher Professor an der ETH Zürich. Bis 2015 war er in der Leitung des Studio Basel, des Instituts der Stadt der Gegenwart.

Wilhelm Natrup ist seit 2009 Chef des Amts für Raumentwicklung des Kantons Zürich. Nach dem Studium der Stadt- und Regionalplanung an der TU Berlin war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Orts-, Regional- und Landesplanung an der ETH Zürich. Bis 2009 war er Partner bei Ernst Basler + Partner Zürich

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