Ein viel­schich­ti­ges Haus

Ein Haus für Jugendliche zu entwerfen, heisst, auf Schutzbedürfnis und Bewegungsdrang ebenso Rücksicht zu nehmen wie darauf, dass die Benutzer und Benutzerinnen sich in ­einer Entwicklung befinden. Das im September 2010 fertiggestellte Haus der Jugend in Kirchdorf bei Hamburg von Kersten + Kopp Architekten trägt diesen Anforderungen Rechnung.

Publikationsdatum
24-02-2012
Revision
25-08-2015

Kirchdorf, ein Quartier in Hamburg-Wilhelmsburg, liegt auf einer der von der Stadt bislang vernachlässigten Elbinseln südlich der Innenstadt und ist einer von Hamburgs IBA-Stadtteilen. Unter dem Schlagwort «Kosmopolis» will die IBA zeigen, welchen Reichtum eine Metropole an ihrer Bevölkerung hat. Dieser Schatz kann nur gehoben werden, wenn die Stadt die dafür optimalen Bedingungen schafft: Mit der IBA wurde daher auch die «Bildungsoffensive Elbinseln» ins Leben gerufen. Die dortigen Bildungseinrichtungen sollen sich laut IBA-Publikation «zu offenen Orten entwickeln, an denen Menschen unterschiedlichen Alters optimale Bedingungen vorfinden, um gemeinsam mit- und voneinander zu lernen und zu kommunizieren». Man kann sich vorstellen, dass auch von der Architektur erwartet wird, «kommunikativ» zu sein. Wird ein Bau als Vermittler, als Gelenk bezeichnet, ist mitunter Skepsis angebracht – zu abgegriffen sind diese Bilder inzwischen. Für das Haus der Jugend aber sind sie passend, zumal es Qualitäten aufweist, die über diese Metaphern hinausreichen. Der Neubau liegt zwischen einer S-Bahn-Station, einer Siedlung aus den frühen 1970er-Jahren mit einem für diese Zeit typischen Stadtteilzentrum im Westen, der Maximilian-Kolbe-Kirche im Norden, einem kleinen Park und einem von Einfamilienhäusern geprägten Gebiet im Osten und Süden. An die Kirche schliessen sich nach Norden hin Bildungs- und Sozialeinrichtungen an; einige der Schulen sollen bis 2013 zu einem Bildungszentrum mit dem grossen Namen «Tor zur Welt» umgebaut werden. In diesem Kontext ist das Haus der Jugend als erster Baustein der künftigen Bildungslandschaft ein Symbol für den Neuanfang im Quartier. Hier können Jugendliche ihre Zeit mit Spielen und Sport verbringen, sie erhalten Sprachunterricht und Nachhilfe, Foto- und Musikkurse werden angeboten.  

Solitär und Nachbarschaft

2005 fiel in einem Wettbewerb für den Neubau des bestehenden Jugendhauses die Entscheidung für den Entwurf der Berliner Architekten Kersten + Kopp. Ihr Projekt ist horizontal und vertikal aus Schichten aufgebaut, die einander so durchdringen, dass eine ebenso sinnfällige wie komplexe Gesamtstruktur entsteht. Die für Jugendliche wichtigen Orte für sportliche Aktivität sind nicht hinzugefügt, sie lassen das Haus erst entstehen. Das kompakte, polygonale Volumen ist an der Grenze zwischen Strasse und Park platziert. Es überspannt einen offenen Sportplatz, die nördliche Stirnseite ist als Kletterwand gestaltet, eine aussen liegende Treppe führt zur Skaterbahn mit kleiner Pipe, deren Unterseite als «Fischbauch» von der Strasse aus sichtbar ist. Jede Gebäudeseite ist spezifisch auf die Nachbarschaft abgestimmt – inhaltlich und ästhetisch. Die Skaterbahn und eine mit silbergrauen Aluminiumelementen verkleidete Fassade sind zur Strasse hin orientiert. Die Kletterwand mit ihrer skulpturalen Ausformung ist ein ästhetisches Äquivalent zur gegenüberliegenden Kirche, eine grösstenteils verglaste Fassade öffnet das Gebäude zum Park.
Durch das offene Erdgeschoss ist der Eingang ins Gebäude leicht zu finden. An das Entrée mit Café schliessen sich Fotolabor, Werkraum und ein Musikstudio an. Darüber liegt eine zweigeschossige Multifunktionshalle mit Umkleidebereich. Über dem Sportplatz finden sich im zweiten Obergeschoss die Lern- und Arbeitsbereiche. Mit dem Eingangsbereich verknüpft wurde eine sich über die Gebäudebreite erstreckende, dreigeschossige Halle. In der Längsrichtung stellt sie die Verbindung von innen und aussen liegender Sportfläche, zwischen Lernbereich und den Kursräumen im Erdgeschoss her, in der Querrichtung zwischen Park und Strasse, zwischen Aussen- und Innentreppe. Diese Halle ist Erschliessung und Aufenthaltsraum in einem.

Verbindend und schützend

So komplex die Struktur der Räume ist, ihre Beziehungen bleiben ablesbar. Dank grosszügigen Glasflächen und Lichthöfen sowie Aussentreppen und der Skaterbahn durchdringen Inneres und Äusseres einander – differenziert und fein abgestuft, sodass auch Nischen und Rückzugsräume bleiben. Das konzentrierte Volumen reduziert zudem den Eingriff in den Park. In den aus dem Gesamtvolumen ausgeschnittenen Freiräumen sind die Aussenflächen farbig gestaltet; rot zur Strasse hin, grün über dem Sportplatz, mit farbigem Beton oder bunten Aluminiumfassadenelementen. Das schafft variantenreiche Farbstimmungen, lässt das Gesamtvolumen erkennbar, das Innere aber nach aussen treten: Fast wirkt es, als strahle das Haus von innen. Die Oberlichter der Erschliessungs- und der Multifunktionshalle werden in der gleichen Weise verstanden wie die Lichthöfe, sie charakterisieren die Bereiche als Aussenräume im Inneren. 

Offene Komposition

Das Haus der Jugend ist kein konventionelles Gebäude, das konkrete Handlungsanweisungen benötigt und Erwartungen an die Nutzer stellt. Eher ist es eine offene Komposition, sorgfältig zusammengestellt, kalkuliert heterogen, die dazu auffordert, das Haus zu entdecken, zu erobern und zu codieren. Das macht seine besondere Atmosphäre aus.

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