De­sign für ei­ne Ge­sell­schaft im Wan­del

Während drei Wochen stand Zürich ganz im Zeichen des Designs. Die Zurich Design Weeks boten in ihrer zweiten Ausgabe ein facettenreiches Programm an, im Fokus standen Designlösungen für eine Welt im Umbruch. Wir stellen vier Projekte und einen Showroom vor.  

Publikationsdatum
19-09-2023

Hellgelb, Leuchtendrot oder Hellblau: Ungewohnt bunt präsentiert sich die neue Kollektion «imma» von Horgenglarus. Die älteste Stuhl- und Tischmanufaktur des Landes, ansässig in Glarus, steht für Holzmöbel, die langlebig, zeitlos und von hoher Verarbeitungsqualität sind – und häufig schwarz lackiert oder naturbelassen daherkommen. «Die Farbe Schwarz gehört zur DNA der Manufaktur», sagt der Zürcher Designer Stephan Hürlemann. «Ich wollte aber einen klassischen und zeitgemässen Stuhl entwerfen, der auch mit seiner Farbgebung Modernität in die bestehende Kollektion bringt». Dies ist ganz im Sinne von Marc Huber, seit Februar neuer CEO von Horgenglarus: «Ich strebe eine behutsame Weiterentwicklung des Sortiments an, in dem wir die Komfortzone, aber nicht die DNA der Marke verlassen.»

Stephan Hürlemann hat mit seinem Team dreieinhalb Jahre lang an der neuen Stuhlfamilie gearbeitet. Das Resultat ist ein Stuhlsystem, dessen prägendes Element die Kreuzzarge ist. Da die Sitzfläche mit Abstand verschraubt ist, wirkt sie nahezu schwebend. Die massive Kreuzkonstruktion ersetzt die umlaufende Zarge und bewirkt zusammen mit den gebogenen Hinterfüssen und der verleimten Rückenlehne eine hohe Stabilität. «Dies ist der einzige Holzstuhl in der Horgenglarus-Kollektion, beim dem die Sitzfläche nicht geleimt, sondern nur verschraubt ist», erklärt der Designer. So kann das am stärksten beanspruchte Element jederzeit ausgetauscht werden.

Das 3D-Formsperrholz der Sitzfläche und Rückenlehne verleiht den Möbeln eine leichte Erscheinung. Ausser als Stuhl ­– ohne oder mit Armlehne – wird «imma» als Hocker in drei verschiedenen Sitzhöhen hergestellt. «Wir wollten einen ökonomischen Stuhl machen, der wenig Material verbraucht. Er soll möglichst lange halten und zudem auch stapelbar sein,» sagt Hürlemann. Eine Herausforderung war die Geometrie des Stuhls, den er in neuer Weise mittels 3-D-Druck und virtual reality testete: «So konnten wir einige Prototypen einsparen». Den Stuhl gibt es naturbelassen in Buche, Eiche und Esche oder deckend lackiert in einer der 13 Farben aus der Kollektion oder jeder frei wählbaren Kombination. Für die deckend lackierten Varianten wird 100 % Buchenholz aus Wäldern aus dem Schweizer Juragebiet verwendet, der Rest stammt mehrheitlich aus Osteuropa.

Damit Nussbaum nicht aus Amerika importiert werden muss, bietet Horgenglarus zudem eine nussbaumähnliche Optik mit europäischen Hölzern. Dabei kann der Stuhl auch zweifarbig gefertigt werden, Sitz- und Rückenlehne beispielsweise in Gelb, die Beine in hellem Grau. «Mit der Variantenvielfalt wollen wir vor allem inspirieren. Wer sich dann doch für ein klassisches Schwarz entscheidet, tut dies dafür umso bewusster. Und in punkto Formensprache ist die neue Kreuzzargen-Stuhlfamilie eine Spur leichter und moderner und somit eine stimmige Ergänzung zu den bestehenden Modellen», so Marc Huber.

Pop-up Möbelibar in der Zürcher Altstadt

Die Premiere der Stuhlfamilie wurde anlässlich der Zurich Design Weeks im Pop-up-Lokal «Möbelibar» im Neumarkt 17-Salon gefeiert. Dort war auch ein Exemplar der auf 46 Stühle limitierten Designers Edition von «imma» zu sehen – in dieser Ausführung wird die Kreuzkonstruktion farblich hervorgehoben, je ein Vorder- und Hinterbein sowie die Sitzfläche, bzw. Rückenlehne andersfarbig lackiert.

Zudem lancierte Horgenglarus bei dieser Gelegenheit auch den Klapptisch «boq» sowie die Variante «poq» mit fixen Beinen. Martin Ebert vom Londoner Studio Meda entwarf den stapelbaren Klapptisch mit Rastbolzenverschluss aus Massivholz. Das zentrale Konstruktionselement des Entwurfs erinnert an den klassischen Arbeitsbock und verleiht dem Tisch, der in unterschiedlichen Grössen ausgeführt werden kann, seine hohe Stabilität. Eine gezapfte Verbindung zwischen Bein und Traverse sorgt für die nötige Biegesteifigkeit. Wie es sich an Stuhl und Tisch speisen lässt, kann man in der «Möbelibar» noch bis Ende September testen – bei einem Menu aus neu interpretierten Schweizer Klassikern vom Gourmetkoch Pascal Schmutz.

Die Design Biennale Zürich war dieses Jahr eines der Partnerevents der Design Weeks. Mit dem Thema «Shift» widmete sich die vierte Ausgabe den kleinen und grösseren Veränderungen unserer Zeit. Die von Gabriela Chicherio und Andreas Saxer kuratierte Veranstaltung fand wie schon im vergangenen Jahr im Alten Botanischen Garten statt. 15 eigens für die Biennale geschaffene Installationen von Designschaffenden aus dem In- und Ausland erstreckten sich über das hügelige Gelände des Gartens – ein breites Spektrum, das alle Designdisziplinen umfasste.

So zeigte Frédéric Dedelley, dass Beobachtung die Voraussetzung für jeden Shift beziehungsweise Veränderungsprozess ist. Schon seit vielen Jahren hält der Zürcher Designer Beobachtungen, die er im Alltag macht, mit seiner Kamera fest. Manche davon haben ihn zu neuen Projekten inspiriert, andere sind  flüchtige Momentaufnahmen geblieben. Das genaue Beobachten steht für ihn an erster Stelle eines kreativen Prozesses und bildet häufig die Basis neuer Ideen. Im Alten Botanischen Garten flaniert man so unter grossformatigen Bilderfahnen, die Skurriles und Zartes, Seltsames und Schönes mischen. «La poésie est partout» heisst es auf einer der Fahnen. Und wer genau hinschaut, entdeckt verschiedene Stuhlmotive – Hinweise auf Dedelleys Designarbeiten.

Vom Abfallprodukt zur Kreislaufwirtschaft

Ganz experimentell ist die Installation «Shifting Flows», die die Besuchenden gleich am Eingang empfängt. Das Projekt zeigt auf, wie mittels der Grundsätze der Kreislaufwirtschaft ein Produkt, das bisher als Abfall galt, zu einer neuen Ressource werden kann.

Ausgangsprodukt ist das Eis, das beim täglichen Unterhalt einer Eisbahn anfällt. Dank der am Lehrstuhl für Digitale Gebäudetechnologien der ETH Zürich entwickelten Technologie kann das Eis als Schalungsmaterial beim Giessen von Beton wiederverwendet werden. Die aus Beton gegossenen Kuben weisen eine einzigartige poröse Struktur auf, die sich stellenweise fast auflöst und Durchblicke ermöglicht. Erzeugt wurden diese Leerräume durch das beim Giessen verwendete Eis, das später geschmolzen ist. «Ein Material, das konstruktiven Halt bieten kann, nicht nur im Bauwesen, sondern auch in Bezug zu einer Biodiversität im urbanen Kontext», lobt Kurator Andreas Saxer.

Vom alchimistischen Prozess der Ziegelherstellung handelt dagegen die Installation «Liminal Sediments» vom Zürcher Studio Eidola. Die Installation zeigt potenzielle Verwendungsmöglichkeiten von Schotterabfällen aus Steinbrüchen auf, deren Eigenschaften und Merkmale im Vorfeld erforscht wurden. Dabei erforscht das Duo Denizay Apusoglu und Jonas Kissling die Übergangsphasen im Materialentwicklungsprozess. Statt sich bloss auf das Endergebnis zu konzentrieren, macht es auf die Einzigartigkeit und das Potenzial jeder Phase aufmerksam. So werden die Sinter- und Verglasungsprozesse des Materials untersucht, um die komplexen Nuancen von Temperatur und Zeit zu enthüllen sowie die chemischen Reaktionen, die während des Brennens ablaufen.

Mit einem virulenten Problem der Textilwirtschaft beschäftigte sich Laurent Hermann Progin in seiner Installation «Brise». Schliesslich zählt die Textilwirtschaft zu den grössten Umweltverschmutzern weltweit. Der Zürcher Mode- und Textildesigner verleiht alten Markisen, die nicht mehr als solche verwendet werden, einen neuen Zweck. Zerkleinert und miteinander verwoben, bilden sie als überdimensionale Vorhänge einen temporären Raum. Der Designer führte das ausgediente Material einem neuen Zweck zu und spielte dabei mit den Farben und Mustern, die viele Markisen prägen. Für seine Installation griff er auf die traditionelle Webtechnik zurück und wendete diese in einem neuen Massstab an.

Auf dem Weg durch den alten botanischen Garten spazierten die Besucherinnen und Besucher zwischen den bunten Stoffbahnen hindurch. Durch die kleinen Lücken, die beim Weben entstehen, drangen Licht und Luft in den Pergola-artigen Raum. Die sinnliche Installation mit Nachhaltigkeitsbotschaft überzeugte auch beim erstmals verliehenen Talent Award, einem von der Swiss Re vergebenen, mit 5000 Franken dotierten Förderpreis für Nachwuchstalente. «Brise» bekam die meisten Publikumsstimmen. «Ich bin überwältigt, den Talent Award by Swiss Re gewonnen zu haben. Die Design Biennale Zürich bietet uns Designern und Designerinnen die einmalige Chance, sich in einem neuen Kontext auszudrücken», sagte Laurent Hermann Progin.

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