Zur Ge­stalt zeit­ge­nös­si­scher Kir­chen­räu­me

Begegnungszentrum reformierte Kirche Sarnen

Der Projektwettbewerb zum Begegnungszentrum der reformierten Kirche in Sarnen OW stellt weit mehr Fragen als bloss diejenige nach einem vielfältig nutzbaren Gebäude. Niedermann Sigg Schwendener Architekten aus Zürich finden mit ihrem Beitrag jedoch passende Antworten darauf.

Publikationsdatum
09-06-2022

Im vergangenen Jahr wurden in der Deutschschweiz zwei grös­sere Wettbewerbe lanciert, die den Neubau eines kirchlichen Zentrums zur Aufgabe hatten: das Begegnungszentrum in Sarnen und das Stefansviertel in Zürich. Es löste weitherum gewisses Erstaunen aus, dass die mit Bedeutungsverlust und Mitgliederschwund konfrontierten Landeskirchen neue Räume – und sogar neue Kirchenräume – benötigen. Doch gerade die reformierten Kirchgemeinden haben sich längst von ihrer Funktion reiner «Gottesdienstleister» emanzipiert und diese um eine Vielzahl sozialer, karitativer und seelsorgerischer Angebote erweitert, die in kirchlichen Zentren konzentriert werden.

Dafür brauchen viele Kirchgemeinden nicht in erster Linie mehr, sondern vor allem andere Räume. Am Beispiel von Sarnen fragen wir uns: Wie sollen diese aussehen – und warum kehrt das Thema der Sakralität in die kirchliche Architektur zurück? Und nicht zuletzt: Wie gelingt es dem siegreichen Projekt, Multifunktionalität und sakrale Stimmung zu vereinen?

«Wohnstube der Gläubigen» versus mystische Raum­skulpturen

Die letzte grosse Welle des Sakralbaus in der Schweiz fiel in die Zeit zwischen den 1950er- und den 1970er-­Jahren. Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum schufen die Grundlagen, paritätisch genutzte oder zu klein gewordene Kirchen durch Neubauten zu ersetzen. Dazu kamen Veränderungen in der ekklesiologischen Ausrichtung beider Landeskirchen. Die gesellschaft­lichen Entwicklungen jener Zeit wurden in den Kirchen – mit der üblichen Verzögerung – durchaus wahr- und aufgenommen. Gerade in der reformierten Kirche setzten sich neue Vorstellungen einer religiösen Gemeinschaft durch, und spätestens seit dem zweiten Vatikanischen Konzil (1963–1965) bewegte sich auch die katholische Kirche, zumindest in ihren liturgischen Abläufen.

Die zahlreichen Neubauten jener Zeit reagierten darauf. Auch bei den Katholiken rückte nun der Altar mehr ins Zentrum der Kirche, und die Gottesdienste wurden stärker von der Idee des «Miteinander-­Feierns» geprägt als von der Vor­stellung des weitgehend passiven Beiwohnens an einem zeremoniellen Akt. Was aber blieb, war die Vorstellung eines sakralen Raums: kontemplativ und geborgen, mystisch und sinnlich – sich selbst und damit die Besuchenden überhöhend. Bauten von Walter Maria Förderer, Hermann Baur, Hanns A. Brütsch, Justus Dahinden oder Ernst Studer gehören zu den schönsten Exponenten dieser Zeit.1

Im Gegensatz dazu entwickelte sich der reformierte Kirchenraum weiter weg von dieser letztlich historischen Idee des Sakralen hin zu einem Gemeindesaal mit Mehrzweckfunk­tion. Die gesuchte Stimmung war dabei eher Wohnlichkeit als Sakralität: Werner M. Moser beschrieb seine Kornfeldkirche (1964) als «Wohnstube der Gläubigen». Die Trennung von Alltag und Liturgie sollte, zumindest architektonisch, aufgehoben werden.

In Sarnen ist dieser Moment der schweizerischen Kirchenbau­geschichte exemplarisch zu besichtigen. Die katholische Kollegiums­kirche St. Martin von Ernst Studer2 überwältigt: eine weisse, begehbare Skulptur aus Schalen und Scheiben, durchdrungen von indirektem Licht; als Raum zwar ohne eigentliche Richtung, aber dramaturgisch doch ausgerichtet auf den Altar. Ein magischer Raum – der ausser für Gottesdienste aber höchstens noch für Konzerte genutzt werden kann.

Im Gegensatz dazu erscheint im gleichen Ort der reformierte Kirchenraum nüchtern: ein quadratischer Saal ohne Richtung und Dramaturgie, weitgehend schmucklos und in Materialien ausgeführt, die damals auch im Wohnungsbau gern verwendet wurden: Terrakottafliesen, Abrieb, eine Holzdecke – dazu Stühle statt Bänke. Nur die Introvertiertheit und die Lichtstimmung, die durch hoch liegende Fensterbänder erzeugt wird, erinnern noch entfernt an traditionelle Sakralräume.

Auch in seiner äusseren Erscheinung zeigt sich der Komplex der reformierten Kirche zugäng­licher und mit seinen Anklängen an Frank Lloyd Wright integrativer und wohnlicher als die in sich geschlossene Skulptur von St. Martin. Seine Erscheinung changiert zwischen Wohnbau und Mehrzweck­halle – nur noch der frei stehende Turm verweist auf eine Kirche.

Die Denkmalpflege Obwaldens stuft den Bau als Kulturobjekt von lokaler Bedeutung ein und empfiehlt seine Unterschutzstellung. Abgesehen vom rückseitigen Anbau (1985) sind die städtebauliche Setzung mit der gestaffelten Volumetrie, das Gesicht zum Dorf und die moderate Modernität tatsächlich von hohem Wert – und der Abbruch ein Verlust, der zu hoher Qualität des Neubaus verpflichtet.

Abriss oder Erhalt?

Dieser reizvolle, 1960 von Gutmann Schwarz erbaute und 2007 von Seiler Linhart Architekten fein sanierte Bau stand nun zur Disposition. Das Wettbewerbsprogramm stellte es zwar vordergründig frei, den Bau zu erhalten und zu erweitern, formulierte aber eine Präferenz für einen Totalersatz in Holz. Die dazu im Programm angeführten betrieblichen und energetischen Gründe vermögen in Anbetracht des heutigen Nachhaltigkeitsdiskurses nicht gänzlich zu überzeugen. Vielmehr scheint durch, dass sich die Kirchgemeinde schlicht etwas Neues wünscht.

Hier wird deutlich, dass die Vermittlung der Sinnfälligkeit von Substanzerhalt nicht nur hinsichtlich baukultureller Werte, sondern auch im Hinblick auf Nachhaltigkeit noch vieler Anstrengungen und grosser Aufklärungsarbeit bedarf. Zweifelsohne wäre ein Teilerhalt der Bauten auch mit den (berechtigten) Wünschen der Kirchgemeinde vereinbar gewesen – und hätte mög­licherweise nicht nur zu einer besseren Energiebilanz, sondern auch zu einer reizvollen Anlage geführt. Leider vermochten beide Beiträge, die einen (Teil-)Erhalt versuchten, das Beurteilungsgremium nicht zu überzeugen.

Vielfältiges Engagement

Das Programm umfasste neben einem Kirchenraum mit Bühne, einem zuschaltbaren Mehrzweckraum und einem entsprechenden Foyerbereich auch eine Cafeteria mit Küche, einen Hort, einen Schulraum, ein Atelier, Verwaltungsräume und zwei Wohnungen. Dabei wird deutlich, wie umfassend die Kirchgemeinde den Begriff des Begegnungszentrums versteht und lebt. Es soll nicht nur Begegnungen aller Art fördern, sondern übernimmt auch handfeste karitative Aufgaben als Sozialpartner im Kanton und stellt in enger Zusammenarbeit mit gemeinnützigen oder politischen Akteuren (Pro Senectute, Gemeinde Sarnen, Pro Infirmis, einer Genossenschaft für Nachbarschaftshilfe, einem Naturschutzverein und sogar der katholischen Kirche) Angebote für «Notbedürftige, Asylsuchende, einsame Menschen und Menschen mit Integra­tionsbedarf»3 bereit.

Zwischen Mehrzwecksaal und Transzendenz

Zu ihrer kurz nach dem Bau in Sarnen geplanten Kirche in Urdorf (1970) gaben Gutmann Schwarz noch zu Protokoll: «Gegen unseren inneren Willen, aber mit äusserer Billigung ist dann der Bau doch zu schön geworden, um nicht zu sagen, dass er trotz gegenteiligen Bemühungen etwas Sakrales hat.» Beabsichtigt war ein «Haus, das viel erlaubt und kaum Verhaltenszwang ausübt». Diese Entsakralisierung des Kirchenbaus verfolgte das Ziel, dass sich in einem offenen, nahezu undefinierten Gefäss – einer eigentlichen «Leerstelle» im Bauwerk – eine freie und sich über die Zeit verändernde Gottesdienstausübung entwickeln sollte. Eine radikale ekklesiologische Haltung, die wohl nur selten mit der Realität des Kirchgemeindelebens in Übereinstimmung gebracht worden sein dürfte.

Es ist nicht nur der Überdruss gegenüber den allzu profan gestalteten reformierten Kirchen des letzten Kirchenbaubooms, sondern interessanterweise die kleiner werdende Wichtigkeit des Gottesdiensts im Alltag, die den sakralen Raum zurückbringt. Eine «Individualisierung der Frömmigkeitspraktiken» hat die Liturgie ergänzt.4 Es sind Angebote zur Verinnerlichung, etwa Räume der Stille für Meditation und Kontemplation, Orte für Seelsorgegespräche oder für Gebete, die allein oder in kleinen Gruppen genutzt werden. Hier geht es um Transzendenz in einem weiteren Sinn – um eine Gegenwelt zum alltäglichen Lebensraum, die in stimmungsvollen Räumen gefunden wird. Ähnliches gilt auch für heutige Gottesdienstbesuchende: Gerade weil es kein alltäglicher Akt mehr ist, einer kirchlichen Feier beizuwohnen, wird eine gewisse Erhabenheit der Räume angenommen.

Im Raumprogramm wird dieser Aspekt klar eingefordert: Die Atmosphäre des Raums soll dazu beitragen, dass man sich auf die Inhalte und die Formen der Kontemplation konzentrieren kann und so unsere Spiritualität unterstützen. Bestehende reformierte Kirchen werden als Referenz aber ausgeschlossen, da sich die Anforderungen an solche Räume in den «letzten 20 Jahren massiv geändert» hätten.

Es ist genau dieser Aspekt des Neubaus in Sarnen, der besonders interessiert und die Bauaufgabe von jener eines einfachen Mehrzweckbaus unterscheidet. Wie bewegen sich Architektinnen und Architekten heute im Spannungsfeld zwischen Mehrzwecksaal und Transzendenz?

Eine zentrale Halle als Lösung

Mit einer zwar einfachen, aber raffiniert umgesetzten Grundrissdisposition gelingt dem siegreichen Entwurf von Niedermann Sigg Schwendener Architekten dieser Spagat erstaunlich mühelos. Der Kirchenraum wird – im Wortsinn und vielleicht sogar ohne metaphorischen Hintergedanken – zum Zentrum des räumlichen Gefüges. Ummantelt wird der Saal mit den Räumen der weiteren Nutzungen. So werden die Benutzenden des Kirchenraums auf selbstverständliche Art von direkten Ein- und Ausblicken bewahrt – eine der elementaren Grundbedingungen sakraler Räume. Gleichzeitig können mit Faltwänden die vielfältigen Raumbeziehungen sichergestellt werden, die das Programm verlangt.

Weiter wird dieser zentrale Raum überhöht, sodass er aus den umliegenden Raumschichten herausragt. Dadurch bekommt er nicht nur eine angemessene Höhe, sondern auch Licht von oben – eine weitere Grunddisposition der meisten sakralen Räume. Als Schnittfigur ist er dadurch verwandt mit basilikalen Kirchenbauten mit Hauptschiff, Lichteinfall durch Obergaden und angegliederten Seitenschiffen. Mit der asymmetrischen Grundanlage im Schnitt und der unregelmässig polygonalen Form im Grundriss wird dem Raum aber jeder offensichtliche Historismus ausgetrieben.

Ein weiteres Gestaltungsmittel, das entwerferische Geschicklichkeit im Umgang mit dem Notwendigen einerseits und ein Verständnis für die Besonderheit der Aufgabe andererseits verrät, ist der Umgang mit dem Holztragwerk über dem Saal. Es handelt sich zwar um ein gerichtetes Tragwerk aus Haupt­trägern und niedrigeren Sekundärträgern, deren Anordnung und die dazwischen gespannte Deckenverkleidung suggerieren jedoch ein ungerichtetes Flächentragwerk, das ähnlich einem gotischen Rippengewölbe eine gestalterische, ornamentale Qualität erzeugt. Zusammen mit den kräftigen Holzstützen und den gegliederten Holzverkleidungen der Wände dürfte durch diese Konstruktionswahl eine Wohnlichkeit entstehen, die jedoch die gestalterische Banalität der «Wohnstuben der Gläubigen» aus den 1970er-Jahren zu vermeiden und die gewünschte Stimmung zu erzeugen vermag.

Die hohe betriebliche Flexibilität wird freilich erkauft mit recht viel Erschliessungsfläche und sehr vielen Faltwänden, die mit Bedienungsaufwand und akustischen Nachteilen einhergehen. Ob die angestrebte Stimmung tatsächlich erreicht werden kann, wird auch in einem gewissen Mass von der gelungenen Ausführung dieser Elemente abhängen: In­mitten einer Ansammlung von kunstharzbelegten Standardelementen mit ihren handelsüblichen Dichtungen und Bändern ist eine sakrale Stimmung nur schwer vorstellbar.

Anmerkungen

1 Eine herausragende Quelle für die Architektur des modernen Kirchenbaus in der Schweiz ist die von Johannes Stückelberger betreute Datenbank auf www.schweizerkirchenbautag.unibe.ch, die rund 1000 Sakralbauten der Moderne auflistet.
2 Der Bau ist stark von Ernst Studer geprägt. Offiziell ist die Urheberschaft dem ausführenden Büro Studer Studer Naef zuzuschreiben.
3 Aus dem Wettbewerbsprogramm.
4 Vgl. hierzu: Johannes Stückelberger: «Kirchgemeindezentren – und was spätere Generationen daraus machen», aus: Johannes Stückelberger (Hg.): Moderner Kirchenbau in der Schweiz. Theologischer Verlag, Zürich 2022.

Jurybericht und Pläne auf competitions.espazium.ch

Rangierung

1. Rang, 1. Preis: «Cepa»
Niedermann Sigg Schwendener Architekten, Zürich; Sima | Breer Landschaft­s­architektur, Winterthur; Lauber Ingenieure, Luzern; Abicht Zug, Zug
2. Rang, 2. Preis: «Columbidae»
phalt Architekten, Zürich; Anton Landschaft, Zürich; Makiol Wiederkehr, Beinwil am See
3. Rang, 3. Preis: «Am Platz»
studio berardi miglio, Zürich; vb Landschafts­architektur, Rüti ZH; Synaxis, Zürich
4. Rang, 4. Preis: «Papillon 2»
Bastien Turpin Architektur, Zürich / Architekturbüro Hirsig & Hirsig, Hasliberg Goldern; Neuland ArchitekturLandschaft, Zürich; Holzbaubüro Reusser, Winterthur
5. Rang, 5. Preis: «Chullo»
Traxel Architekten, Zürich; Lehner Landschaftsarchitektur, Ebnat-Kappel; Synaxis, Zürich
6. Rang, 6. Preis: «Ein gedeckter Tisch»
Backes Zarali Architekten, Basel; Antje Gamert Architektur und Landschaft, Basel; Lauber Ingenieure, Luzern; eicher + pauli, Liestal

Fachjury

Evelyn Enzmann, Architektin, Zürich (Vorsitz); Andreas Galli, Architekt, Zürich; Brigitte Wullschleger, Architektin, Oberarth

Sachjury

Jürg Rothenbühler, Architekt, Präsident Kirchgemeinderat, Sarnen; Ruedi Schmid, Sozialdiakon Kirchgemeinde, Sarnen

Verwandte Beiträge