Ver­letz­li­che An­ony­mi­tät

Wettbewerbe nach SIA-Ordnung 142 werden in anonymer Form durchgeführt. Die Auftraggebenden, die Mitglieder des Preisgerichts, die Teilnehmenden und die beteiligten Fachleute haben die Anonymität sicherzustellen. Was jedoch, wenn etwas schiefgeht?

Publikationsdatum
10-03-2021

Architektinnen und Architekten, die sich an Projektwettbewerben beteiligen, wissen es: Die Anonymität der Teilnehmenden muss unbedingt gewahrt bleiben. Ein Projekt, das Hinweise auf die Autorenschaft enthält, wird ausgeschlossen und nicht juriert. Das steht in den kantonalen Submis­sionsverordnungen, in der Ordnung für Architektur- und Ingenieurwettbewerbe (SIA 142) und in den Wettbewerbsprogrammen. Bei einem Ausschluss ist aller Aufwand für die Ausarbeitung des Wettbewerbsprojekts vergebens und die Hoffnung auf eine gute Rangierung oder gar auf den Auftrag geplatzt.

Es kommt vor, dass Wettbewerbsbeiträge wegen eines Ver­stosses gegen das Anonymitätsgebot ausgeschlossen werden. Zudem gibt es nicht nur Justizirrtümer, sondern auch Irrtümer von Preisgerichten, die Wettbewerbsbeiträge mit dem Hinweis «Verletzung der Anonymität» ausschliessen – auch wenn gar keine Verletzung vorliegt. Solche Irrtümer sind Rechtsverletzungen, gegen die sich die Betroffenen wehren können und auch sollen.

Irren ist menschlich?

Was ist an einer Geschichte über fragwürdige oder irrtümliche Ausschlüsse interessant? Was ist interessant an einem Einzelfall? Es ist halt passiert, «irren ist menschlich»? Nein, Fatalismus ist nicht angesagt – eher die Frage: Was kann getan werden, um die Anonymität zu wahren? Wie Teilnehmende die Verletzung der Anonymität vermeiden können und welche Möglichkeiten die Veranstaltenden zur Wiederherstellung einmal verletzter Anonymität haben, hat Klaus Fischli, vormals Sekretär der Kommission SIA 142, in «Der Strichcode der Post» (TEC21 14/2004) und in «Stolperstein Anonymität» (TEC21 47/2005) beschrieben.

Hilfe in Krisensituationen

Die Kommission SIA 142/143 für Wettbewerbe und Studienaufträge ist die Hüterin des Wettbewerbs-
Know-hows – sie vergisst nicht so leicht wie wir Individuen. Statt inkompetent zu handeln und damit Schaden anzurichten, könnten Veranstaltende von Wettbewerben, die unverhofft mit einem «Anonymi­tätsproblem» konfrontiert sind, unverzüglich die SIA-Kommission für Wettbewerbe konsultieren.

Die Veranstaltenden kennen die Kommis­sion, weil sie ihr bereits die Wett­bewerbsprogramme unterbreitet haben. Sie könnten die Kommission auch bei der Bewältigung von Krisensituationen beiziehen. Die Ver­letzung der Anonymität in einem Wettbewerb ist eine Krisensitua­tion. Sowohl für die Veranstaltenden als auch für die Teilnehmenden – der Schaden sollte bei Verletzungen der Anonymität nicht grösser gemacht werden als nötig und kann durch geeignete Massnahmen begrenzt werden.

Das Preisgericht hat im Fall, der Anlass zu diesem Artikel gibt, nicht rechtzeitig kundigen Rat eingeholt. Nun ist bereits viel Geschirr fahrlässig zerschlagen, der rechtswidrige bzw. unnötige Ausschluss mehrerer Wettbewerbsteilnehmenden ist Tatsache und kann nicht mehr ungeschehen gemacht werden.

Im konkreten Fall zeichnete ein elektronisches Formular, das im Wettbewerb eingereicht werden musste, in der Fusszeile «automatisch», ohne Dazutun der Person, die das Blatt bearbeitete, den Pfad zum elektronischen Speicherplatz im jeweiligen Architekturbüro auf – eine Verletzung der Anonymität. 42 von 53 Wettbewerbsteilnehmern bemerkten diese Falle und löschten die Fusszeile. Damit vermieden sie, «erkannt» zu werden.

Elf Teilnehmende löschten die Fusszeile nicht. Sie übersahen die Fussangel in den einzureichenden Unterlagen. Eine dieser Fusszeilen lässt keinen Rückschluss auf die Verfasser des Wettbewerbsbeitrags zu. Von den zehn Wettbewerbseingaben, deren Autorinnen und Autoren erkennbar waren, wurden nur fünf ausgeschlossen. Ob es die Vorprüfenden waren, die bei der Jury den Antrag auf Ausschluss nur für fünf oder für alle zehn Büros, die sich per Fusszeile erkennbar gemacht hatten, stellten und ob die Jury bei der Hälfte streng und bei der anderen Hälfte mild urteilte, wissen nur Insider.

Das Gericht kommentierte diesen Vorgang im Urteil: «Hin­zuweisen bleibt darauf, dass der Beschwerdegegner [d. h. der Wett­bewerbsveranstalter, der Verf.] beim Ausschluss der Wettbewerbsteilnehmer nicht konsequent vorging, weshalb seiner Verfügung etwas Willkürliches anhaftet und diese den Anspruch der Beschwerde­führerin [und aller Wettbewerbs­teilnehmer, der Verf.] auf gleiche Be­handlung ihres Beitrages (vgl. SIA-Norm 142, S. 4) verletzt.»

Die beiden Ausgeschlossenen, die die besten Aussichten hatten, in einem juristischen Verfahren erfolgreich zu sein, gelangten ans Gericht. Sie hatten die Anonymität überhaupt nicht verletzt. In diesen beiden Fällen erlaubte es der Text in der Fusszeile nicht, die Identität der beiden Teilnehmenden festzustellen. Die Vorprüfenden hatten aber eine hypothetische Identifikationsmöglichkeit supponiert. Aufgrund dieser Hypothese stellten sie dem Preisgericht den Antrag auf Ausschluss. Das Preisgericht folgte diesem Antrag einstimmig – «zu Unrecht», wie das Gericht in den beiden dazu gefällten Urteilen1 feststellte.
Zur Feststellung der Rechtswidrigkeit zweier Ausschlüsse sowie der Willkür durch ungleiche Behandlung der weiteren Ausgeschlossenen sind die beiden Gerichtsurteile wertvoll. Der Gang ans Gericht hat sich gelohnt.

Mögliche Entschädigung?

Die Frage ist nun, ob und wie der Schaden, den die fünf Ausgeschlossenen erlitten haben, wieder gut­gemacht werden kann. Diese Nuss ist noch nicht geknackt. Es ist nicht opportun, hier über vielleicht laufende, vielleicht angestrebte Verhandlungen zu spekulieren. Bei schwierigen Verhandlungen ist immer auch «Gesichtsverlust» ein Thema. Deshalb werden sie am erfolgversprechendsten unter Ausschluss der Öffentlichkeit geführt.

In einem Gerichtsverfahren wird der Fall ­öffentlich. Der Vorteil dabei ist, dass die Schaulust des Publikums befriedigt werden kann. Und manchmal tragen Gerichtsurteile im Einzelnen zur Klärung und im Allgemeinen zur Rechtsfortbildung bei.

Es gibt jedoch viele Nachteile von Gerichtsverfahren. Meist werden die Visiere der Kämpen fürs erste oder gleich definitiv herun­tergeklappt. Es wird mit viel Einsatz und ohne Rücksicht auf Verluste gestritten. Vergleiche kommen manchmal doch zustande, wenn beide Seiten schon viele Ressourcen verschlissen haben und vom Kampf ermattet sind. Allerdings ist es auch möglich, sich vor einer gerichtlichen Auseinandersetzung an den Tisch zu setzen. Oft ist es dann nicht «aussichtslos», pragmatische Lösungen zu finden, denn beide Seiten haben Verhandlungsspielraum.

Und zu guter Letzt könnte sich die SIA-Kommission für Wettbewerbe dafür interessieren, welche SIA-Mitglieder im Preisgericht sassen und was sie genau taten bzw. unterliessen. Die Kommission SIA 142 hat auch schon früher die Einleitung von Standesverfahren be­antragt, wenn SIA-Mitglieder ihre Sorgfaltspflicht als Preisrichter verletzt hatten.


Anmerkung
1 Urteile des Verwaltungsgerichts des Kantons Glarus vom 30.4.2020. VG.2020.00005 (VG.2020.939) und VG.2020.00006 (VG.2020.918), publiziert in «Entscheiddatenbank der Gerichte – Kanton Glarus».

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