Stolpersteine im Weg
Editorial von Tracés 10/2015
Seit einigen Wochen ist Genf Schauplatz eines Konflikts zwischen Befürwortern und Gegnern der geplanten Erweiterung des Musée d'art et d'histoire (MAH) nach einem Entwurf von Jean Nouvel. Dreh- und Angelpunkt dieses architektonischen Kleinkrieges sind die Ausbauten im Innenhof des von Marc Camoletti realisierten Gebäudes im Beaux-Arts-Stil, das 1910 eingeweiht wurde. Es heisst zwar von allen Seiten, dass die Renovierung sein muss, doch während die Befürworter behaupten, dieser architektonische Entwurf verschaffe dem MAH die heute fehlende Modernität und den Platz und mache es so zu einer der bedeutendsten kulturellen und touristischen Attraktionen der Stadt, sträuben sich die Gegner vehement gegen ein Projekt, mit dem das ursprüngliche Konzept für die Aufteilung des Gebäudes deutlich verändert wird.
Zum Zeitpunkt des Erscheinens von Tracés 10/2015 hat der Stadtrat wahrscheinlich dem Budget von 132 Mio. Franken zugestimmt. Und die Gegner des Projekts werden sicherlich in dem Bemühen, die für eine Volksabstimmung benötigten 4000 Unterschriften zu sammeln, durch die Strassen Genfs ziehen. Die Bürger werden auf jeden Fall das letzte Wort haben.
In einer seiner Chroniken1 eröffnet der Journalist Etienne Dumont, ein intimer Kenner der Kulturszene, die Debatte über die Erweiterung dieser musealen Institution der Stadt Genf. Tut es wirklich Not, die Ausstellungsflächen des Museums so stark zu vergrössern? Er relativiert die Vorstellung von den «verborgenen Schätzen» im Fundus des MAH und beantwortet seine eigene Frage mit einem kategorischen «Nein», wobei er dies damit begründet, dass eine gut gemachte Renovierung und ein neues museales Konzept auf der Grundlage «beweglicher, lebendiger Sammlungen» anstelle von «mumifizierten Aushängen» viel überzeugender gewesen wären. Diese Distanz erspart es dem Kunstkritiker, zum x-ten Mal alle Vor- und Nachteile des Entwurfs von Jean Nouvel aufzulisten, und sie eignet sich auch dafür, über die Bedeutung des MAH in einem grossstädtischen Massstab nachzudenken.
Als vor einigen Monaten der Stadtplanungswettbewerb für den Sektor Place de l'Etoile im Rahmen des Grossprojekts Praille Acacias Vernets ausgewertet wurde, kündigten die Kantonsbehörden mit einem gewissen Stolz an, man habe «endlich die identitätsstiftende Referenz schlechthin» für dieses neue, im Entstehen begriffene Zentrum gefunden: das Gerichtsgebäude ... Ein etwas seltsames Symbol für ein Quartier, das durchmischt, lebendig und zukunftsorientiert sein soll!
Wäre es nicht besser gewesen, man hätte sich für Bildung entschieden und z. B. die Haute École d'Art et de Design (HEAD), die in der Genfer Bildungslandschaft einen exzellenten Ruf geniesst, als Akzent für die Place de l'Etoile ausgewählt? Hätte man sich dafür entschieden, dort Studenten und die Beschäftigten im Dienstleistungssektor, die in den Hochhäusern wohnen bzw. arbeiten, zusammenzubringen, hätte man die von den Behörden so sehr gewünschte soziale und funktionale Durchmischung gehabt. So wäre es auch möglich gewesen, das an das MAH angrenzende Gebäude der Ecole des Beaux-Arts frei zu machen, wie es u. a. von der Genfer Sektion des Schweizer Heimatschutzes und den Projektgegnern vorgeschlagen worden war. So hätte man die geplante Vergrösserung des Gebäudes, gegen das sich so viel Widerstand regt, vermeiden können.
Hierzu hätte die Zusammenarbeit zwischen Stadt und Kanton ganz anders aussehen und eine Strategie hervorbringen müssen, mit der sich eine stadtplanerische Vision über die Grenzen von Institutionen und Sektoren hinweg hätte entwickeln können. Solange dies noch nicht erreicht ist, kann sich Genf auf seinen Metropolbestrebungen ausruhen.
1 Die Chronik von Etienne Dumont mit dem Titel «Une semaine décisive pour le MAH+. Vraiment » kann auf der Bilan-Website nachgelesen werden: www.bilan.ch/etienne·dumont/courants-dart/geneveune-semaine-decisive-mah-vraiment.