Spie­gel ei­ner ge­sun­den Ge­sell­schaft

Heutige Architekturschaffende sehen sich mit einer Flut von ökonomischen Forderungen und technischen Regelungen konfrontiert. Dies erschwert die Auseinandersetzung mit baukulturellen Fragen. Doch ein nachhaltiger, zukunftsfähiger Gebäudepark setzt Respekt vor historischen Werten und Mut zu neuer Qualität voraus.

Publikationsdatum
22-11-2018
Revision
27-11-2018

Baukultur entsteht, wo der Mensch mit Bedacht und Verstand in seine Umgebung eingreift. So ist Baukultur mehr als Architektur und ein Thema von öffentlichem Interesse: Sie umfasst alle baunahen Disziplinen, vom Städtebau bis zum verantwortungsbewussten Handwerk.

Das ausgehende europäische Kulturerbejahr hat deutlich gemacht, dass in unseren Breitengraden ein hohes Baukulturverständnis vorherrscht – zumindest, was das Erbe betrifft. Professio­nelle, gut organisierte Institutionen in den Bereichen Denkmalpflege und Heimatschutz arbeiten stetig an einem breit abgestützten, gesellschaftlichen Konsens über baukulturelle Belange. Im Gegensatz dazu geniesst das zeitgenössische Baukulturschaffen allerdings weit weniger öffentliche Aufmerksamkeit.

Zerstörung jüngerer Werke

Bis vor Kurzem fehlte das politische Sensorium dafür, dass kontinuierlich neue Werte geschaffen werden müssen, um auch in Zukunft über wertvolle historische Baubestände zu verfügen. Und auch heute türmen sich graue Wolken am Horizont des baukulturellen Schaffens auf: In jüngster Zeit zielen verschiedene politische Initiativen auf eine Aufweichung des Denkmalschutzgesetzes und eine Rückstufung des Inventars für schützenswerte Ortsbilder der Schweiz (ISOS). Dabei ist die Absicht oft fadenscheinig und einer unverhohlenen investitionsgläubigen Nutzungsoptimierung geschuldet.

Unübersehbar ist auch, dass insbesondere baukulturelle Denkmäler aus jüngerer Zeit, beispielsweise aus den 1960er- und 1970er-­Jahren, unsorgfältig und mit wenig Gespür für baukulturelle Werte saniert werden.

Jüngstes Beispiel in einer Reihe von unrühmlichen Kulturgemetzeln ist die Renovation des Konvikts der Bündner Kantonsschule in Chur. Das Muster ist oft das gleiche: Energetische, technische und vorgeschobene Komfortgründe werden stärker gewichtet als der baukulturelle Aspekt, obwohl gerade anerkannte Baudenkmäler eine erstaunliche Robustheit in den meisten Belangen der Anspruchsskala zeigen. Richtungsweisende Beispiele gibt es zur Genüge, die als Leuchttürme zurate gezogen werden könnten.

Der baukulturelle Dialog ist auf allen Ebenen und mit Entschiedenheit weiterzuführen. Nur im Dia­log mit der Gesellschaft kann das Verständnis für baukulturelle Aspekte erhöht und gefestigt werden. Und: Die Sachkundigen müssen ihre Stimme dezidierter erheben. Allzu oft können die Verantwortlichen von  vornherein mit wenig Gegenwehr rechnen und in aller Stille unwiderbringliche Zerstörungen anordnen.

Schwerer Stand in der heutigen Praxis

Architektinnen und Architekten sind in Erstgesprächen oft damit konfrontiert, dass Bauherrschaften kaum gewillt sind, für baukulturelle Themen Mehrausgaben in Kauf zu nehmen. Im Gegenteil, häufig scheinen sie besorgt, der Baukünstler wolle sich mit übertriebener Gewichtung ästhetischer Kriterien selbst ein Denkmal setzen. Eine eingehende Auseinandersetzung mit baukulturellen Aspekten in den frühen Phasen eines Bauprojekts trägt viel zur Klärung bei. Denn mit jedem Eingriff entsteht Baukultur – die Frage ist nur, ob gute oder schlechte.

Es ist an uns Architektinnen und Architekten, das Bewusstsein unserer Auftraggeber dafür zu wecken, dass jede Bauaufgabe, auch jede private, zugleich einen öffentlichen Charakter aufweist – gerade dort, wo sich ein Bauwerk in seine Umgebung einordnen und zum Teil eines Ganzen werden soll. Es ist an uns zu zeigen, dass auch mit rea­listischen ökonomischen Überlegungen baukulturell überzeugende Resultate möglich sind. Ohne die zielführende Diskussion zu diesen Fragen jedoch werden in aller Regel gesichts- und seelenlose Einheitsbrei-Bauten errichtet, die auch bei Benutzern auf wenig Akzeptanz stossen und schon bald zum ökonomischen Risiko verkommen.

Dabei gilt es in unseren Breitengraden, nebst baukulturellen Ansprüchen zumindest drei ­grossen Herausforderungen zu begegnen. Erstens wird das Haus der Zukunft vielschichtigen digitalen Ansprüchen genügen müssen – Smart Living und digitale Produktion sind nur zwei Themenschwerpunkte. Zweitens ist raumplanerisch effizienter mit der knappen Ressource Boden umzugehen und der energetische Umbau unseres Ge­bäudebestands vorwärtszutreiben: ­Immerhin beansprucht der Betrieb des Bauwerks Schweiz fast die Hälfte des gesamten Energiebedarfs, und das Effizienzsteigerungspotenzial ist erheblich.

Und drittens ist eine Beschäftigung mit qualitätsvoller Innenverdichtung dringend nötig. Das Tessiner Bergdorf weist eine höhere Dichte auf als beispielsweise das Quartier Fluntern in Zürich, weil das bewirtschaftbare Land knapp war und das Dorf eng beieinander auf dem umfruchtbarsten Teil der urbaren Fläche errichtet wurde. Die Altstädte Europas weisen eine hohe Dichte auf, weil die sie umgebenden Schutzwälle teuer und anfällig waren, das Sicherheitsempfinden bedingte das Zusammenrücken. Zugegebenermassen führten hygienische Verbesserungen erst viel später zu einem Komfortgewinn im nahen Beieinanderwohnen. Doch wenig dichtes Bauen ist ein Primat unserer Zeit, das wir uns langfristig nicht mehr leisten können.

Regeln statt Kultur

Die heutige Gesetzgebung verlangt nicht weniger als gut getaktete und auf Effizienz getrimmte Gebäudemaschinerien, ausgestattet mit höchsten Sicherheitsstandards und allen Insignien von Energieeffizienz, Wohn- und Arbeitskomfort sowie  Schutz vor allen denkbaren Immissionen. Dies manifestiert sich gemäss Berechnungen des Staatssekretariats für Wirtschaft SECO in rund 140 000 Gesetzes- und Verordnungsartikeln, die ein Architekt, der schweizweit tätig ist, zwingend einhalten muss. In den letzten hundert  Jahren hat sich diese Zahl verzehnfacht. Die Regulierungsflut führt zu Mehrkosten im Bauwesen von rund 1,6 Milliarden Franken pro Jahr. Da ist die wachsende Besorgnis da­rüber, wo denn Raum für baukulturelle Aspekte bleiben kann, nicht unbegründet.

Tröstlich ist, dass auch in der wachsenden Anspruchskaskade nach wie vor baukulturelle Vorzeige­projekte entstehen und viele Planerinnen und Planer mit unbändigem Gestaltungswillen in der Auseinandersetzung mit neuen Werkstoffen, Systemen und Methoden neues Gestaltungspotenzial orten und zeitgenössische Antworten mit hohem baukulturellem Wert generieren.

Dies bedingt allerdings Ausbildungsgänge von höchster Qualität, die an unseren Technischen Universitäten und den Fachhochschulen angeboten werden. Noch gelingt es, die besten Kräfte für den Unterricht zu gewinnen und die ganze Breite der Grundlagen zu vermitteln. Positiv zu werten ist auch die vermehrt feststellbare Auseinandersetzung mit dem Bauen im Bestand, einer der tragenden Auf­gaben der nächsten Dekaden. Es fällt aber auf, dass die visionäre Auseinandersetzung mit möglichen künftigen Wohn- und Arbeitswelten in studentischen Arbeiten nur selten vorkommt. Auch weisen Sparübungen im Bildungsbereich – bereits zu Zeiten reger Bautätigkeit – und der teils latente Fachkräftemangel in einzelnen Disziplinen in eine besorgniserregende Zukunft.

Mut zum Besseren

Wie kann der Beitrag des bzw. der Einzelnen für eine richtungsweisende Baukultur aussehen? Bei steigender Komplexität der Fragestellungen sind Kooperationen, die Konzentration der Kräfte und gemeinsame Aktionen zielführende Mittel. Die Institutionen von Fachleuten aus Planung, Denkmalpflege und Heimatschutz müssen noch mehr politische Grundlagenarbeit für faire Vergabewesen, gute Wettbewerbsverfahren und die Harmonisierung des Baurechts leisten. Jede und jeder kann im Grossen und im Kleinen entscheidende Beiträge beisteuern. Im Vordergrund steht, jeder Bauaufgabe mit äusserster Sorgfalt und hohem baukulturellem Verständnis zu begegnen – und gemeinsam mit den Bauherrschaften die Reise hin zu einem sinnlichen und inspirierenden Bauwerk zu wagen, den wachsenden Herausforderungen mit Kreativität und sensiblen Ideen zu begegnen.

Adolf Loos gab schon vor über hundert Jahren vor, woran sich jeder und jede Bauschaffende halten soll: «Man darf nur dann etwas Neues machen, wenn man etwas besser machen kann.» Dies umfasst neben dem verständigen Neu-Erschaffen auch den Mut, sich für bestehende Qualitätsbauten einzusetzen, selbstwenn es vordergründig Argumente gegen eine Weiterverwendung gibt. Die Reise in eine Zukunft, die aus schier unbeschränkten digitalen Möglichkeiten schöpft, wird noch mehr nach sinnlich gestalteten Räumen und Umgebungen rufen. Haptisch begreifbare und erlebbare Gebäude werden unverzichtbarer denn je.

Positionen der Baukultur
Im Rahmen des europäischen Kulturerbejahrs 2018 versammelt die Artikelreihe «Positionen der Baukultur» Essays unterschiedlicher Akteurinnen und Akteure der Baubranche, die über das Wesen und die Bedeutung von Baukultur reflektieren. Die ausgewählten Beiträge er­scheinen in locke­rer Folge übers Jahr, sowohl in TEC21 als auch in TRACÉS und Archi, in der Sprache der jeweiligen Region.

E-Dossier Baukultur
Zahlreiche Beiträge zum Thema Baukultur, die in TEC21 und auf unserem Online-Portal erschienen sind, finden Sie auf espazium.ch/baukultur

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