Pu­bli­kums­ma­gnet und ver­bin­den­des Wahr­zei­chen

Das neue Sixth-Street-Viadukt in Los Angeles ist eine Hommage an seinen Art-déco-Vorgänger. Kurz nach Eröffnung des monumentalen Bauwerks vereinnahmten Menschen aus den angrenzenden Quartieren die spektakuläre Architektur als öffentlichen Raum.

Publikationsdatum
31-01-2024

Nach der Eröffnung im Sommer 2022 war das Sixth-Street-Viadukt für über zwei Wochen geschlossen, denn die Bewohnerinnen und Bewohner der umliegenden Quartiere nutzten das neue Bauwerk für Autorennen. Bereits die alte Brücke hatte in Kino­filmen wie «Grease» oder «Terminator 2» als Hintergrund für waghalsige Rennen gedient1 – so schien es logisch, dies nun in die Realität umzusetzen. Das ist der eigentliche Erfolg der neuen Verkehrsverbindung, denn das Hauptziel war, das Stadtviertel ­Boyle Heights zu integrieren und an Downtown und den Art-­District anzubinden.

Die Vorgängerbrücke mit Charisma

Das über 1 km lange, 1932 errichtete alte Sixth-Street-­Viadukt war die längste der 14 Brücken, die den Los Angeles River in Ost-West-Richtung überquerten. Der Stadtingenieur Merrill Butler liess sie als eine Stahl­betonbrücke im Art-déco-Stil errichten. Die Brücke erlangte nicht nur wegen ihrer spektakulären Länge und der ikonischen ­Bögen Berühmtheit. Als Ergebnis der City-­Beautiful-Bewegung war sie im Gegensatz zu den alten Fachwerkbrücken architektonisch gestaltet und als Teil der axialen Stadtplanung an den öffent­lichen Gebäuden wie der Union Station orientiert. Die dazu eingerichtete Municipal-Art-Kommission, in der alle wichtigen Architekten der Zeit sassen, darunter Cecile B. DeMille und Donald B. Parkinson, musste den Entwurf absegnen.2 Die Brücke beeindruckte durch ihre Monumentalität, die vor allem aus der komplexen Ver­kehrssitua­tion in den 1920er-Jahren resultierte, denn schon 1918 überquerten täglich über 200 000 ­Autos den Los Angeles River. Dank dem Stahlbeton konnte man alle Bögen mit ihren Kreuzpunkten individuell ent­wickeln und meist Naturstein imitierende Dekorationen in eklektischen Stilen integrieren. Dazu musste der ­Beton vor Ort gegossen werden.

Die Zersetzung und ein Neuanfang

Dies war denn auch der Stolperstein für die Lebens­dauer des Bauwerks. Die Zusammensetzung des Betons führte zu einer Alkali-Kieselsäure-Reaktion, durch die sich seine Qualität erheblich verschlechterte, was ihn zu einem ungeeigneten Kandidaten für eine seismische Nachrüstung machte. Bereits 20 Jahre nach der Erstellung kam es zur Betonzersetzung und deswegen unablässig zu Brüchen und Rissen. Über die Jahre wurden erfolglos verschiedene Methoden zur Reparatur ausprobiert. Die Regierungsbehörden dachten lange über eine Lösung nach und es gab Stimmen, die forderten, den Bau von 1932 zu replizieren. Doch dann entschied man sich 2012, einen internationalen Wettbewerb für eine neue Brücke auszuschreiben. Die Idee war, eng mit dem Quartier zusammenzuarbeiten und eine Lösung im Sinne der historischen Brückenkonzeption zu entwickeln.

Mehr zum Thema Beton finden Sie in unserem E-Dossier.

Der Schwerpunkt lag auf Form, Farben und Oberflächen, gleichzeitig sollte eine Verbindung zwischen dem östlich liegenden Quartier Boyle Heights und Downtown im Westen entstehen. In dem dafür gegründeten Design Aesthetics Advisory Committee waren Hitoshi Abe, Professor und Dean des Architektur-Departements der UCLA und Eric Owen Moss, damals Direktor am SCI-Arc, als Architekten vertreten. Sie nahmen an Quartierveranstaltungen teil und gaben den Wettbewerbsteilnehmenden Rückmeldungen. Nach vier Monaten stimmte die Jury für den Infrastrukturplaner HNTB mit dem lokalen Architekten Michael Maltzan. 2016 erfolgte der Abbruch der alten Brücke und nach fünf Jahren Bauzeit wurde die neue mit einem autofreien Quartierfest eröffnet, zu dem über 15 000 Menschen erschienen. Kaum eingeweiht, musste sie sofort wieder für zwei Wochen geschlossen werden, da die Bevölkerung Auto- und Motorradrennen veranstaltete, einen Friseursalon inmitten der Fahrbahnen etablierte, auf den Bögen balancierte und alle möglichen Kunststücke und waghalsigen Dinge vollführte – eine freundschaftliche Aneignung, die die Brücke auch zum öffentlichen Ort werden liess. Auch heute noch sieht man neben ein paar wenigen Joggern und Radfahrerinnen Motorradgangs, die in Gruppen hin- und herfahren und Menschen, die zu jeder Tages- und Nachtzeit Selfies schiessen.

Ein tanzendes Band

«Teil des Auftrags war es, eine Ikone durch eine andere zu ersetzen», sagt Architekt Maltzan, «aber es war auch eine Chance, einen echten öffentlichen Raum zu schaffen.»3  Zehn Bogenpaare, die entlang der Ränder auf- und absteigen, definieren die Stabbogenbrücke. Jeder vor Ort gegossene Bogen ist mit einem Netz aus gespannten Kabeln versehen und verläuft bis unter die Strassen­decke. Dort verbindet er sich mit dem angrenzenden Bogen und bildet einen Y-förmigen Pfeiler, der auf einer seismisch konstruierten Basis, dem Isolator ruht (vgl. «Gleiten bis zum Anschlag»). 32 Dreifach-­Pendellager-Isolatoren ermöglichen es der Brücke, sich im ­Falle eines Erdbebens bis zu 91 cm in alle Richtungen zu bewegen. Dieses Erdbebenkonzept ist nicht ganz neu für Los Angeles, die Academy of Motion Pictures von Renzo Piano beruht auf demselben Prinzip. Im Unterschied dazu gibt es bei der Brücke jedoch ein zweites Sicherheitssystem.

Die Bögen verlaufen beidseits der Strasse in gespiegelter Anordnung. In Anlehnung an das Design von 1932 erheben sich etwa in der Mitte der Brücke über dem Los Angeles River die höchsten Bögen 19 m über die Fahrbahn, während ein Bogenpaar mit 12 m Höhe die Autobahn überquert und am östlichen Ende ein Tor nach Boyle Heights bildet. Die restlichen Bögen sind 9 m hoch. Die Reihe neigt sich zudem um 9 ° nach aussen und erzeugt durch die Öffnung zum Himmel ein Gefühl von Bewegung und Dynamik. Die Linien der Brücke ähneln einem anmutig tanzenden Band, das sich sanft im Wind ­bewegt. Dieser visuelle Effekt wird durch die leichte Krümmung der Brücke und durch die Steigung der Fahrbahn um 19 m von West nach Ost verstärkt.

Lesen Sie auch: «Gleiten bis zum Anschlag» – Mit seinem Bogen- und Pfeilersystem bietet das Sixth-Street-Viadukt einen beispiellosen Widerstand gegen Erdbeben.

Im Gegensatz zum Viadukt von 1932 ist die neue Brücke nicht nur für Autos konzipiert, sondern auf beiden Seiten mit breiten, geschützten Aussenspuren für Fussgängerinnen und Radfahrer ausgestattet. Das Bauwerk hat die gleiche Länge wie sein Vorgänger, ist aber mit 30.48 m mehr als doppelt so breit wie das an der weitesten Stelle 14 m messende Original. Fünf Treppen und eine barrierefreie spiralförmige Rampe mit einem Durchmesser von 31.7 m verbinden die Brücke mit dem in etwa fünf Minuten Fussweg entfernten Hollenbeck Park. Die dramatische nächtliche Beleuchtung der Fahrbahn mit LEDs, die tief in Betonbarrieren eingebettet sind, und die nach oben gerichteten Lichter unter den Bögen machen die Brücke zum «Lichtstreifen», der an einem vorüberfliegt, wenn man im Auto darüber fährt. Sie bietet einen spekta­kulären Vordergrund für die dahinterliegende Hochhauslandschaft von Downtown. Am Tag spielen die kalligra­fischen Bögen mit der Skyline der Innenstadt und bieten durch ihre leicht gebogenen Spannweiten wechselnde Aussichtspunkte über die breiten Verkehrsadern und die im Winter schneebedeckten San Bernadino Mountains.

Park und Stadtviertel

Das städtebaulich dichte Boyle Heights im Osten mit historisch bedeutenden Bauten und dem 8.5 ha gros­sen Hollenbeck Park ist eingeklemmt zwischen den Autobahnen Interstate 5 und 101. Das grösstenteils Spanisch sprechende Quartier war in den 1950er- bis 1960er-Jahren das Zentrum der Chicano-Bewegung, die sich für die Rechte von mexikanisch-amerikanischen Bürgerinnen und Bürgern einsetzte. Für den Bau der Autobahn wurden sie 1961 teilweise enteignet. In neuerer Zeit wehrt sich die Bevölkerung erfolgreich gegen die Gentrifizierung ihrer Industriehallen durch Kunst­galerien und die Verteuerung des Wohnraums durch junge, kaufkräftige Techpeople.

Es war Feinfühligkeit gefordert und auch das Eingeständnis, dass Boyle Heights buchstäblich unter der Autobahn verschwindet. Die Brücke überquert 17 Eisen­bahngleise, die Autobahnen, den Fluss und mehrere Quartierstrassen. Der neue, 4.8 ha grosse Park soll bis 2024 mit dem Quartier verbunden sein. Die Arbeiten konnten erst nach Fertigstellung des Viadukts beginnen und die Finanzierung für die Realisierung musste gesichert werden – mittlerweile sind 59 Millionen von 82 Millionen Dollar vorhanden. Auf der Ostseite sind Grünflächen, Picknickplätze, ein Eventraum und Sportanlagen geplant, während auf der Westseite eine Performancebühne, ein Hundepark und ein Fitness-Rundlauf sowie ein Café entstehen sollen. Was auf den ersten Blick wie die Bespielung einer Restfläche im Schatten der Brücke aussieht, ist in Los Angeles selten: Öffent­lichen Raum gibt es fast nirgends. Ein grüner, schattiger Park in dieser Grösse scheint unvorstellbar.

Die Brücke musste für die Autofahrer auf der Fahrbahn attraktiv sein und gleichzeitig auf ihrer Unterseite genügen, deren betongerippte Struktur wie Walgraten oder die Querbalken einer Basilika beleuchtet sind und in ihrer Gestalt faszinieren. Eine sichere «Trouvaille» für Location Scouts von zukünftigen Filmen und Clips und damit beste Voraussetzungen für eine neue Ikone.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 2/2024 «Starbesetzung für L.A.».

Sixth-Street-Viadukt, Los Angeles

 

Bauherrschaft
City of Los Angeles, Bureau of Engineering

 

Architektur
Michael Maltzan Architecture, Los Angeles

 

Infrastrukturplanung und Statik
HNTB, Los Angeles

 

Generalunternehmen
Skanska-Stacy and Witbeck, Los Angeles

 

Beratung
Hargreaves Jones Associates (Landschaft), New York / San Francisco; AC Martin (Stadtplanung), Los Angeles

 

Landschaftsarchitektur
Hargreaves Jones, New York

 

Länge
1066 m

 

Kosten
588 Mio. US-Dollar

 

Fertigstellung
Juli 2022

 

Beleuchtung Fahrbahn
und Brückenunterseite Philips, Amsterdam

 

Base Isolators
Earthquake Protection Systems, Vallejo

Anmerkungen

 

1 Jedes Jahr diente die Brücke als Kulisse für über 80 Filme, Fernsehshows, Musikvideos und Werbefilme.

 

2 Stephen D. Mikesell, «The Los Angeles River Bridges. A Study in the Bridge as a Civic Monument», in: Southern California Quarterly, Band 68, Heft 4, 1986, S. 365–386.

 

3 Michael Maltzan, Pressetext, Sommer 2022.

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