SIA: Vor­schrif­ten vor Ei­gen­ver­ant­wor­tung?

Erhaltung von Stahlbrücken: Verantwortung der Ingenieure für Denkmalbauten

Ergänzungen, Aktualisierungen sowie eine kritische Zuschrift zum Artikel «Exportartikel Denkmalerhaltung» in TEC21 16/2015 über den unterschiedlichen Umgang mit historischen Bahnbrücken in der Schweiz und in Deutschland.

Publikationsdatum
05-06-2015
Revision
05-11-2015

Tenor des Berichts vom 17. April war die Kritik an der Erneuerungspraxis der Deutschen Bahn, die insbesondere bei Brückenbauwerken deutlich häufiger als in der Schweiz den Abbruch oder eine starke bauliche Überformung zur Folge hat, wodurch der Zeugniswert der betreffenden Bauten obsolet wird. 

Der Bericht warf zudem die Frage auf, ob in Deutschland eine mit der Norm SIA 269 «Erhaltung von Tragwerken» gleichwertige Norm existiert. Beim Verfasser gingen in der Folge einige zustimmende sowie auch eine kritische Reaktion ein. Diese Resonanz soll im Folgenden wiedergegeben werden, verbunden mit einigen Ergänzungen und Neuigkeiten.

Zum Sachstand bei der Gitterträgerbrücke, die zwischen Koblenz AG und dem deutschen Waldshut den Rhein überquert, ist zu ergänzen: Auf Empfehlung des Lan­desdenkmal­amts Baden-Württemberg hat die Deutsche Bahn im Zug des deutschen bauaufsichtlichen Verfahrens eine sogenannte Nachrechnung (statische Berechnung) der Brücke auf Basis der Richtlinie (Ril) 805 durch einen Prüfingenieur in Auftrag gegeben. Möglicherweise wird diese die Ergebnisse des 2010 von Eugen Brühwiler verfassten Gutachtens bestätigen. Danach soll entschieden werden, ob bei der Brücke Erhaltungsmassnahmen erfolgen und in welcher Form. Die ­Brücke ist ein eingetragenes Denkmal, und die Denkmalbehörde arbeitet beim Erhaltungskonzept eng mit der SBB-­Bauabteilung in Luzern zusammen. 

Von Vertretern der Chem­nitzer Bürgerinitiative «Viadukt e. V.» ist zu hören, dass die Deutsche Bahn bei dem im Text erwähnten 110 Jahre alten Chemnitz­viadukt nach wie vor die Option Abbruch präferiert – obwohl nicht nur das sächsische Landesamt für Denkmalpflege, sondern auch die Baubürgermeisterin der Stadt für einen Erhalt plädierten. 

Die Pro-Abbruch-Begründung der Vertreter der Deutschen Bahn an der zum Thema einberufenen Expertenrunde zeigte sachliche Widersprüche: So wurde etwa bei einem mehrere ­Jahrzehnte unbenutzten Bereich der Brücke mit drohender Material­ermüdung argumentiert, berichtet Johannes Rödel, Vorstand von «Viadukt e. V.» und Werkstoffingenieur an der Universität Bayreuth. 

Neubauplaner prüfen Erhaltungsvarianten 

Zu grosser Skepsis veranlasst zudem die Entscheidung des Bauherrn, den Auftrag einer vergleichenden Untersuchung von Erhaltungsvarianten an das Ingenieurbüro Krebs + Kiefer zu vergeben – und damit an jenes Unternehmen, das einige Jahre zuvor das Vergabeverfahren für den von der Bahn geplanten Brückenneubau gewonnen hatte. Die Untersuchung des Ingenieurbüros komme denn auch zu dem Ergebnis, ein Neubau sei für 12 Mio. Euro zu haben, während die Erhaltung des Bau­werks 20 Mio. Euro kosten würde. 

Aus Sicht der Abrissgegner eine absurde Summe. So schlage Krebs + Kiefer sehr aufwendige Interventionen vor, wie Johannes Rödel berichtet, «da werden viele, viele Tonnen Stahl neu verbaut». Nach Ansicht unabhängiger Experten komme es durch diesen ungewöhnlichen Aufwand zu der horrenden Kostenprognose. «Die Bahn ist der grösste Denkmaleigentümer in Deutschland», so Johannes Rödel, aber sie verschanze sich hinter dem ­Argument: «Unsere Aufgabe ist es, Verkehr zu gewährleisten, nicht Denkmalpflege zu betreiben.» Die Presseabteilung der Deutschen Bahn war bis Redaktionsschluss nicht für eine Stellungnahme zu erreichen. 

Deutsche Richtlinie 805 praxistauglicher  

Eine kritische Zuschrift erhielt der Verfasser von Martin Mensinger, der an der TU München den Lehrstuhl für Metallbau innehat. Mensinger hat im Auftrag der Deutschen Bahn in den vergangenen drei Jahren mehr als 25 historische Brücken hinsichtlich Erhaltung oder Ersatzneubau zu beurteilen gehabt. In seinem Brief geht er technisch detailliert auf die Unterschiede zwischen der deutschen Norm Richtlinie (Ril) 805 und der Norm SIA 269/3 ein, die er ebenfalls gut kennt, und weist darauf hin, dass «in Deutschland im Bereich der Bahnen bereits seit 1996 mit der Ril 805 «eine Norm vorliegt, die sich detailliert und umfänglich mit der Beurteilung und Erhaltung ­historischer Brückenbauwerke ­befasst und die sich in der prak­tischen Anwendung sehr gut bewährt hat». 

Weiter führt Martin Mensinger aus: «Seit einigen ­Jahren existiert mit der Nachrechnungsrichtlinie auch im Bereich der Strassenbrücken eine ähnliche Vorschrift. Beide Vorschriften lassen im Rahmen eines offenen vierstufigen Verfahrens die Anwendung ingenieurwissenschaftlicher Methoden ausdrücklich zu und leisten so einen wesentlichen Beitrag zum Erhalt historischer Bausubstanz.» Seiner Meinung nach ist eine pauschale Kritik an der Er­haltungspraxis der Deutschen Bahn nicht gerechtfertigt, da viele Baudenkmäler wie z. B. die Müng­stener Brücke, die Rendsburger Eisenbahnhochbrücke oder das «Blaue Wunder» (Elbbrücke) in Dresden mit grossem Aufwand und viel Liebe zum Detail erhalten werden konnten. Dies auch aufgrund der Tatsache, dass dort bereits 15 Jahre vor Einführung der SIA 269 entsprechende tech­nische Regeln zur Verfügung standen. 

Der Ingenieur als Anwalt des Denkmals 

Die generelle Zielrichtung des Berichts vom April unterstützt Mensinger jedoch ausdrücklich: «Historische Ingenieurbauwerke wie die Gitterträgerbrücke bei Koblenz sind Teil unseres kulturellen ­Gedächtnisses, und es ist daher Aufgabe der heutigen Ingenieur­generation, sich für deren Erhalt einzusetzen.»

Ob viele der Kollegen Bau­ingenieure diesem Anspruch gerecht werden können, bezweifelt Franz-Josef Hilbers, emeritierter Professor für Tragwerksplanung in Berlin. Beim Bauherrn Deutsche Bahn, für den er selbst jahrelang tätig war, gebe es «noch immer eine starke Tendenz hin zum Abbruch», sagt Hilbers. Diese restriktive Haltung komme den vielen konservativ arbeitenden Ingenieuren entgegen. «Ingenieure nehmen noch immer lieber eine Vorschrift in die Hand, folgen schematischen Modellrechnungen, als ein Bauwerk vor Ort zu untersuchen und selbst ein Ertüchtigungskonzept zu entwickeln», sagt Hilbers. Allerdings sei in den letzten Jahren eine gewisse Sensibilisierung zu beobachten. 

Als Verfasser des Beitrags ging es mir nicht in erster Linie darum, ob nun die SIA 269/3 oder die deutsche Richtlinie 805 für die Tragwerksanalyse und Tragwerks­erneuerung die nützlichere oder praxistauglichere ist. Entscheidend ist aus meiner Sicht, was die Bauherrschaft am Ende aus den gewonnenen Erkenntnissen macht. Die beste Norm hilft wenig, wenn ein Bauherr die Tragwerksplaner mit dem Ziel beauftragt (und sie das ggf. auch ­wissen lässt), eine fachliche Bestä­tigung für seine Abbruchpläne zu erhalten. Durch Abbruch oder grundlegenden ­Umbau gerade bei grossen, landschaftsprägenden Bauten ist im deutschen Netz heute eine deutlich geringere Vielfalt von Brücken zu finden, die in ihrem ursprünglichen Erscheinungsbild erhalten sind, als etwa im Netz der SBB. 

Es spricht nicht für die Baukultur eines Unternehmens, wenn es landauf, landab erst ­Bürgerinitiativen braucht, um es zum Erhalt seiner baulichen Zeugnisse zu bewegen. Insofern ist an der Darstellung des Beitrags vom
17. April im Grundsatz nichts zu korrigieren. 

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