«Schutzziele spiegeln eine Mentalität der Verfügbarkeit wider»
Drei Brücken, ein Kreisel, massive Schutzdämme – der Wiederaufbau der von einem Bergsturz zerstörten Gemeinde Bondo im Bergell scheint gigantisch. Matthias Wielatt vom Tiefbauamt Graubünden stellt den Projektumfang im Interview in einen grösseren Kontext und erklärt, warum niederschwelligere Ansätze für ähnliche Fälle (noch) – kein Thema sind.
Reportage Wiederaufbau Infrastruktur Bondo
Wenn Architektur- und Baumedien über Gebautes berichten, ist die Arbeit meist schon getan. Wir machen es anders und nehmen Sie mit auf die Baustelle. Hier geht es zu unserer Reihe zum Wiederaufbau von Bondo.
Hält man sich den Massstab des Projekts vor Augen, realisiert man erst, wie gross die Eingriffe in die Landschaft sind.
Das ist in der Tat so. Man vergisst bei dieser geografischen Lage allerdings gerne ihre Bedeutung. Während die Verbindung der Ortsteile Promontogno und Bondo beziehungsweise Bondo und Sottoponte und Spino nur lokal bedeutsam sind, hat die Verfügbarkeit der Malojastrasse eine sehr grosse wirtschaftliche Bedeutung für den Raum Oberengadin. Dabei sollte nicht nur die Erreichbarkeit des Oberengadins für Touristen aus Norditalien betrachtet werden, sondern auch die Rolle der zahlreichen Grenzgänger aus dem Valchiavenna und dem westlichen Teil der Provinz Sondrio für den Wirtschaftsstandort Oberengadin – der zweitstärkste im Kanton Graubünden nach dem Churer Rheintal. Mit dieser Perspektive verändert sich der Massstab gleich noch einmal. Eine hohe Verfügbarkeit der Malojastrasse ist daher von grosser Bedeutung, auch aus sicherheitsspezifischer Sicht. Oftmals treten bei Starkregenereignissen nicht an nur einer Stelle, sondern an verschiedenen Stellen in einem Tal Schäden auf. Das Bergsturzereignis am Cengalo ist insofern etwas untypisch für die Hochwasserdimensionierung von Brücken. Aber allgemein gilt, dass talerschliessende Strassen wie die Malojastrasse dann oft die einzige Versorgungsachse für Hilfe sind und entsprechend zuverlässig funktionieren müssen. Das Tiefbauamt Graubünden hat in den letzten Jahren beispielsweise zusätzliche Sprengmasten im Bereich der Lawinenzüge am Silsersee installiert, um die durch Lawinen bedingten Schliessungszeiten der Malojastrasse zu reduzieren.So müsste bei einer Inkaufnahme eines nicht ausreichenden Hochwasserschutzes im Ereignisfall von einer mehrwöchigen Sperre der Malojastrasse ausgegangen werden, was zum Beispiel in der Zeit zwischen Weihnachten und Neujahr den Engadiner Tourismus empfindlich treffen könnte.
Auch die Kosten sind hoch.
Auch das ist eine Frage der Perspektive. Neben dem Kanton Graubünden (wasserbauliche und strassenbauliche Subventionen) unterstützt auch die Eidgenossenschaft (BAFU) solche Naturgefahrenprojekte, solange sie ein positives Nutzen-Kosten-Verhältnis aufweisen. Von den Baukosten muss die Gemeinde Bregaglia also nur einen verhältnismässig kleinen Teil selber schultern. Die Restkosten für die Kantonsstrassen und Brücken übernimmt übrigens ohnehin die Spezialfinanzierung Strassen des Kantons Graubünden. Aufgrund der Wahl des Verfahrens tritt aber die Gemeinde Bregaglia als Bauherrin auf.
Wären auch kostengünstigere Varianten möglich?
Kostengünstigere Varianten hätten höchstens einfachere, dominantere Brückentragwerke sein können, zum Beispiel solche mit oben liegenden Tragwerken. Diese hätten aber vor allem in Bezug auf den Schutz des Orts- und Landschaftsbilds Nachteile. Die Einbettung in die sensible Landschaft hätte bei günstigeren Lösungen massgeblich gelitten.
Ist Denkmalschutz in einem Fall mit begrenzten finanziellen Ressourcen überhaupt möglich?
Denkmalschutz ist oft unabhängig von den Ressourcen möglich. Überspitzt gesagt: Wo Denkmalschutz keine signifikanten Zusatzkosten verursacht, ist er meist sinnvoll – umgekehrt ist dies ja nicht immer der Fall. Wenn bestehende Bauwerke jedoch keinen ausreichenden Schutz mehr vor Naturgefahren bieten, müssen schwierige Abwägungen zwischen denkmalpflegerischen Aspekten und Schutzmassnahmen getroffen werden. Oft steht die Realisierbarkeit einer Massnahme ohne Zerstörung der erhaltenswürdigen Eigenschaften eines Bauwerks im Vordergrund, nicht unbedingt die Kosten. Meist handelt es sich um überschaubare Objekte. Die betroffenen Bauwerke in Bondo – die Maira-Brücke Spizarun und die Bondascabrücke – waren noch jung und stammten aus den späten 1980er- und frühen 1990er-Jahren, weshalb sich solche Fragen nicht stellten. Zumindest noch nicht. Von der alten Brücke Punt ist nichts mehr erhalten geblieben. Deshalb kamen auch in diesem Fall keine denkmalpflegerischen Massnahmen, sondern nur Rekonstruktionsmassnahmen infrage.
Wären Strassen wie Baupisten, die nach jedem Murgang geräumt und instandgestellt oder leichte, feine Brücken, die nach einem Murgang neu gebaut würden, eventuell eine Alternative, um mit möglichen weiteren Ereignissen umzugehen?
In jedem Fall ist die benötigte Zeit, um eine Verkehrsverbindung wiederherzustellen, entscheidend. So könnten Brücken, die Hochwasserschäden erleiden können, oder Galerien, die für 100-jährige Szenarien eigentlich zu kurz sind, auf Verbindungsstrassen von untergeordneter Bedeutung toleriert werden. Dies ist in den Schutzzielmatrizen der Verordnung zum integralen Risikomanagement des Kantons Graubünden festgelegt. Daraus erkennt man, dass Hauptstrassen wie die Malojastrasse nach einem 100-jährigen Ereignis nur in einem begrenzten Rahmen beschädigt werden dürfen. Die Verordnung fordert eine Überprüfung, das heisst, es muss eine Risikoanalyse zur Abklärung der Notwendigkeit von Massnahmen durchgeführt werden. Aber selbst dann sollten die Arbeiten innerhalb weniger Tage abgeschlossen sein. Natürlich spiegeln diese Schutzzielmatrizen eine Mentalität der Verfügbarkeit wider, die in wohlhabenden Ländern üblich ist. Mir sind jedoch nur wenige Bauprojekte bekannt, bei denen gegenüber den ohnehin notwendigen Massnahmen erhebliche Mehrkosten durch die Einhaltung dieser Matrizen entstanden wären. Die Anpassung des Durchflussprofils einer Brücke, die Anhebung der Strassenlage oder die Verstärkung einer Galeriedecke lassen sich oft mit vertretbarem Aufwand bewerkstelligen. Kostenintensiv wird es, wenn beispielsweise anstelle einer Galerie ein massiv teurerer Tunnel gebaut werden muss.
Interviewpartner
Matthias Wielatt ist MSc Bauingenieur ETH/SIA, Teilprojektleiter Kunstbauten (bauherrenseitig) und Chef Kunstbauten Tiefbauamt Graubünden