Sau­er­stoff: der Spi­nat-Irr­tum

Der Mensch braucht Sauerstoff zum Atmen. Gilt das auch für moderne, energieeffiziente Gebäude? In Teil 11 der Serie «Chemie des Bauens» geht es um O2, das nicht nur in der Luft, sondern auch in der Erde eines der häufigsten Elemente ist.

Publikationsdatum
03-09-2019

Das Haus lebt, das Haus blüht oder das Haus schwitzt. Einer Immobilie werden manchmal überraschende Attribute zugeschrieben. Aber nicht jeder Versuch, einen starren Gegenstand als aktives Subjekt zu beschreiben, gelingt oder ergibt sachlich überhaupt Sinn. Oft ist der Grund auch nur ein rhetorischer Kniff, um der Leserschaft die Bedürfnisse der gebauten Umwelt näher zu bringen. Ein Begriff behauptet sich trotzdem: Das «atmende Haus» taucht regelmässig in fundierten Fachberichten auf und hat es sogar zu einem Wikipedia-Eintrag gebracht. Allerdings ist auch dahinter mindestens ein Fragezeichen zu setzen, denn das Onlineportal «ScaryWiki» verortet ein Haus, das atmen kann, ins Reich der urbanen Legenden. 

Worum geht es also, wenn sich unbewegliche Masse plötzlich organisch benehmen soll? Sind solche Beschreibungen als sprachliche Missgeschicke? Handelt es sich um ein Missverständnis zwischen Laien und Experten, oder geht es um mehr: einen Schlagabtausch konträrer Ansichten? Tatsächlich ist das «atmende Haus» zum Sinnbild dafür geworden, dass sich alte Gewissheiten in der Bautechnik aufzulösen scheinen. Die Ansprüche zwischen Lufthygiene und Bauphysik passen, je länger über die Energieeffizienz debattiert wird, desto weniger zusammen: Ingenieure erklären das Abdichten von Hauswänden zur Medizin für das aktuelle Energieproblem. Baubiologen sorgen sich dagegen darum, dass weiterhin ausreichend gesunde Luft in die Räume dringen kann. Wer hat nun recht? Wie viel Luft braucht ein Haus? Oder droht den Gebäudenutzern eine akute Erstickungsgefahr?

Die Luft auf der Erde besteht über drei Viertel aus Stickstoff; Sauerstoff (Ordnungszahl 8) ist mit 21 % in der Atmosphäre ebenfalls gut vertreten. Im festen Erdmantel ist Letzterer sogar das häufigste Element, mit einem Anteil von über 40 %. Und ein Meer, das keinen Sauerstoff enthält, gilt als biologisch tot. Dank der allgegenwärtigen Verbreitung ist ein Leben auf unserem Planeten überhaupt erst möglich. Da darf es nicht erstaunen, dass ein Aussperren von Luft aus unseren Häusern als unnatürlich wahrgenommen wird. Genau darum geht es aber: Auf welchem Weg strömt frische Luft hinein, wenn die Hausfassade immer dichter und undurchlässiger konstruiert werden soll? Fachleute wissen, dass dies sowohl über die Diffusion von Dampf durch alle Schichten und Materialien möglich ist als auch über die thermische Strömung respektive Konvektion, wozu die Luft jede Lücke in einem undichten Wandaufbau nutzt. 

Ebenso wie man den Spinat lange Zeit als Kraftfutter wähnte, weil ein historischer Messfehler den Eisengehalt überschätzte, ist auch die Bauphysik ursprünglich einem Irrtum aufgesessen: Man glaubte, die Diffusion von Luft durch ein Mauerwerk – die atmende Wand – könne entscheidend zur Raumlüftung beitragen. Mittlerweile hat man diesen Anteil auf unter 1 % korrigiert. Zur Erfrischung der Raumluft muss man sich deshalb entscheiden, ob dafür eine Lüftungsanlage eingebaut werden soll oder ob es genügt, das Fenster von Hand zu öffnen.

Übrigens trägt der konvektive Luftwechsel auch zum Feuchteausgleich deutlich mehr bei als ein konstruktions- und materialabhängiger Dampftransport. Fragen Sie deshalb einen Bauphysiker nie, ob ein Haus atmet oder nicht, sondern einfach, ob man eine Dampfsperre einbauen soll oder nicht! 

2019 ist das internationale Jahr des Periodensystems. Die Kolumne «Die Chemie des Bauens» geht ebenso systematisch den natürlichen Elementen und ihren Eigenschaften auf die Spur und sucht die gebaute Umwelt mitsamt Umgebung nach ihren atomaren Zutaten ab. 

 

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