Le­ben mit Lärm

«Immens dicht» ist die beste Beschreibung für die Neuerscheinung «Wohnen im Einklang», denn das kompakte Buch vermittelt auf seinen 150 Seiten sehr viel Wissen – beleuchtet aus verschiedenen Blickrichtungen. Mit Texten, Plänen und Bildern fassen die Herausgeberinnen das interdisziplinäre Forschungsprojekt «Integrativer Lebensraum trotz Lärm» zusammen, das sich mit dem Bauen und Wohnen in lärmbelasteten Lagen dicht bebauter urbaner Räume auseinandergesetzt hat.

Publikationsdatum
03-10-2023

Es hat einen guten Grund, weshalb für intensive Tests Ende Mai dieses Jahres in Berlin der erste Lärmblitzer Deutschlands aufgebaut wurde: Stadtbewohnerinnen und -bewohner leider immer mehr unter Lärm aus verschiedenen Quellen, der Strassenverkehr ist die bedeutendste. Der Schweizer Nationalrat hat bereits im März 2021 dem Vorschlag zugestimmt, den Verkehrslärm im Land drastisch zu reduzieren – unter anderem möglicherweise ebenfalls mit Lärmblitzern.

Mit den verschiedenen Lärmquellen in unseren Städten, den negativen Auswirkungen auf die Gesundheit der Menschen und einem möglichen Umgang damit befasste sich von 2019 bis 2021 das interdisziplinäre Forschungsprojekt «Integrativer Lebensraum trotz Lärm» des ZHAW Departements Architektur, das in dieser Publikation nun umfassend vorgestellt wird. Thematisiert wird erfreulicherweise auch der Siedlungslärm, der beispielsweise durch die Nutzung von Innenhöfen entsteht und umso stärker wahrgenommen wird, je mehr Gebäude gegen andere Lärmquellen abgeschottet sind. Die Folge: Spielende Kinder werden zum «Problem».

Da sich das Forschungsteam «mit gegensätzlichen Erwartungen und teils widersprüchlichen Anforderungen» konfrontiert sah, wie der von allen gewünschten Mobilität, einem breiten Wohnraumangebot und dem Gesundheitsschutz, näherten sich die Beteiligten der Aufgabe mit «Research by Design». Dazu gehört der Austausch mit anderen Disziplinen, wie Akustik und Soziologie. Zu Wort kommen neben Architektinnen und Architekten auch ein Lärmschützer und ein Lärmwirkungsforscher. Aufgeräumt wird ferner mit dem Mythos, Lärm sei nur dann schädlich, wenn wir Menschen ihn bewusst wahrnehmen. All das macht das Buch so lesenswert.

Lauter Lebensraum: Fotos, Analysen, Empfehlungen

Gegliedert ist es in einen kurzen Fotoessay, ein Vorwort sowie einen einleitenden Beitrag, die beiden anschliessenden Kapitel «Bauen und Wohnen» sowie «Forschen und Entwerfen» und als Abschluss ein sehr empfehlenswertes Nachwort. Auch die Umschlagseiten wurden inhaltlich gefüllt: Die vordere zeigt die Badenerstrasse als Forschungsgegenstand mit den Punkten der entwerferischen Studien und der Untersuchungen. Auf der hinteren finden die im Projekt erarbeiteten Strategien «für die Planung neuer Wohnbauten an lärmbelasteten Lagen» Platz.

Die Fotografien von Christian Senti bilden einen guten Einstieg und bieten mit ihren verschiedenen Blickwinkeln die Vielschichtigkeit des Themas ab. Im einleitenden Beitrag blickt Astrid Staufer kritisch auf die sich «beschleunigende Normierungs- und Standardisierungsspirale», stellt Zusammenhänge mit dem Forschungsprojekt her und erläutert die Herangehensweise.

Im ersten Kapitel werden zwei konkrete Projekte vorgestellt, die auf ungewohnte Art mit dem Thema Lärm umgehen; eines davon leider ausschliesslich mit Plänen, da es vor Gericht gestoppt wurde. Ungünstig ist dabei, dass die Pläne so klein abgedruckt sind, dass sie sehr schwer zu lesen und damit zu verstehen sind. Einen Blick zurück in die Geschichte der untersuchten Badenerstrasse wirft die «Biografie eines lauten Lebensraums», die aufzeigt, wie sich die Wahrnehmung von Lärm und der Strassenverkehr verändert haben. Ausgewählte Fotografien veranschaulichen diese Entwicklung sehr deutlich.

Studentische Arbeiten und ein Tagebuch

Das zweite Kapitel widmet sich studentischen Projekten. Anhand zweier Gespräche mit Studierenden und Dozierenden werden die beiden Module «Constructive Project» und «Constructive Research» des Masterstudiengangs Architektur vorgestellt, in deren Rahmen die Studierenden Wohnbauten im Kontext der lärmbelasteten Badenerstrasse entwarfen bzw. mit dem Schwerpunkt Akustik eine neue Fassade für ein bestehendes Haus entwarfen. Mehrere dazwischengeschobene Doppelseiten mit Bildern bereichern die niedergeschriebenen Worte und liefern mit ihren Bildunterschriften weitere wichtige Informationen und Details.

Für alle, die erst einmal kurz und bündig einen Einblick in das Forschungsprojekt bekommen möchten, empfiehlt sich das Forschungstagebuch des zweiten Kapitels. Anhand mehrerer umfangreicher «Einträge», ausgewählter Pläne und Tabellen zeigt es die wichtigsten Eckpunkte, Entscheidungen und Ergebnisse des insgesamt zwei Jahre dauernden Projekt auf. Zu guter Letzt wirft Andri Gerber in seinem Nachwort einen Blick in die Zukunft und hebt hervor, welche Bedeutung dieses Projekt insbesondere für die künftige Lehre haben könnte und sollte.

Lesen, verinnerlichen, weiterempfehlen!

Am Ende des Buchs angelangt, hätte ich es kaum für möglich gehalten, dass sich auf dieser überschaubaren Seitenzahl und bei diesem kompakten Format so viel Inhalt transportieren lässt. Alle Texte sind sehr konzentriert geschrieben und beleuchten das Problem von sehr unterschiedlichen Seiten. Deshalb bietet es mit grosser Wahrscheinlichkeit jeder Leserin und jedem Leser Neues und Interessantes. Vielleicht kommt es auch den gesetzgebenden Organen unter und bewirkt dort ein zeitgemässes Umdenken. Dann hätte sich die Arbeit aller Beteiligten mehr als gelohnt.

Institut Konstruktives Entwerfen, ZHAW Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen; Deborah Fehlmann und Astrid Staufer (Hg): Wohnen im Einklang. Strategien zum Bauen im Lärm aus Forschung, Lehre und Praxis, Park Books, Zürich 2023. 152 S., 34 farb. und 56 s/w Abbildungen und Pläne, 16,5 × 23 cm, Broschur, ISBN 978-3-03860-308-5, Fr. 39.–

 

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