Peripherie als Chance: Wakkerpreis 2025 für Poschiavo
Der 52. Premio Wakker geht 2025 nach Poschiavo im italienischsprachigen Puschlav. Die Prämierung wurde Anfang Jahr kommuniziert, am 23. August fand die festliche Übergabe mit einem vielfältigen Rahmenprogramm statt.
Das häufigste Stichwort in den Reden der Vertreterinnen und Vertreter des Heimatschutzes wie auch der lokalen Politik war die periphere Lage Poschiavos – und die daraus gewachsene Eigenständigkeit.
Beim Festakt füllten Menschen aus der Region und Gäste von weiter weg den urban anmutenden Dorfplatz bis zu den Aussentischen der Gasthöfe vor den zartbunten Fassaden, einige von ihnen in Wanderschuhen. Die lange Anreise – ab Chur dauert sie im Bernina-Express auf der UNESCO-Strecke gegen vier Stunden – lud dazu ein, den Besuch etwa mit einer Wanderung zu verbinden.
Alpine Randregionen im Fokus
Poschiavo hat seine Lage zwischen dem italienischen Veltlin und dem Berninapass als Chance genutzt. Die Palazzi der heimgekehrten Auswanderer, das reiche kulturelle Erbe, eine aktive Dorfgemeinschaft und zukunftsfähige Ideen, beispielsweise in der Landwirtschaft, prägen das heutige Leben und haben der Abwanderung entgegengewirkt: Noch immer zählt das Dorf 3500 Einwohnerinnen und Einwohner.
2025 hat die Wakkerpreis-Kommission den Fokus auf das baukulturell brisante Feld der alpinen Randregionen gelegt. Poschiavo sticht dabei hervor: Die Gemeinde ist ein vorbildliches Beispiel, wie eine periphere Region lebendig und attraktiv bleiben, den historischen Bestand weiterentwickeln und gleichzeitig die Kulturlandschaft erhalten kann.
Schützen und qualitativ weiterbauen
Seit 1972 wird der Wakkerpreis jährlich an eine politischen Gemeinde – in Ausnahmefällen an Organisationen oder Vereinigungen – vergeben, die bezüglich Ortsbild- und Siedlungsentwicklung besondere Leistungen vorzeigen können.
1975 ging der Preis an Guarda und damit zum ersten Mal ins Bündnerland. Seither ist der Blick auf die ausgezeichneten Regionen und Orte umfassender geworden und berücksichtigt auch die ökologische, soziale und ökonomische Nachhaltigkeit.
Die Fachjury aus unterschiedlichen Disziplinen begutachtet die potenziellen Preisträgerinnen in einem mehrstufigen Prozess, der über ein Jahr dauert. Für die Auszeichnung braucht es sicht- und spürbare Resultate – aber auch das Engagement der Gemeinde, der übergeordneten Verwaltung und der Bevölkerung.
Die Jury-Präsidentin Brigitte Moser fasst es wie folgt zusammen: «Heute und mit Blick in die nahe Zukunft fokussieren wir auf die Planungs- und Baukultur. Wir suchen Gemeinschaftswerke zwischen Politik, Verwaltung und Bevölkerung. Die zentrale Frage ist: Wie schützen wir angemessen und wie bauen wir qualitativ weiter?»
Globale Geschäfte, lokaler Gewinn
Poschiavos baukulturelles Erbe ist beeindruckend. Die Translokalität der Bevölkerung brachte als «Rückkehr-Kapital» nicht nur ökonomischen Wohlstand, sondern auch Wissen, neue Ideen und Ansprüche an den Lebensstandard.
Ende des 18. Jahrhunderts beendeten politische Umbrüche die Handelsbeziehungen der Poschiaver Familien nach Venedig. Sie expandierten in andere Länder wie Spanien, England und Russland, wo sie Kaffeehäuser und Zuckerbäckereien an bester Lage führten. Trotz dieser Verbindungen blieben sie dem Tal eng verbunden: Geschäfte wurden aus Poschiavo gelenkt und die Gewinne flossen zurück.
Prächtige Palazzi und einfache Bauernhäuser
Die prächtigen Palazzi mit Gärten des venezianischen Architekten Giovanni Sottovia an der Via dei Palazzi stammen aus der Mitte des 19. Jahrhunderts und zeugen von Wohlstand und Anspruch an die Architektur. Die Bauten sind im ISOS verzeichnet. Während manche Familien zu Reichtum kamen, lebten andere weiterhin bescheiden.
Die Casa Tomé, eines der ältesten Bauernhäuser der Alpen, zeigt diese Lebensrealität und ist seit 2007 ein Museum. Auch die konfessionelle Trennung prägte das Tal: Reformierte und Katholiken lebten nebeneinander, besuchten aber lange getrennte Schulen – erst der gemeinsame Schulhausneubau Ende der 1960er-Jahre änderte dies und brachte gleichzeitig brutalistische Architektur ins Tal.
Bewirtschaftete Landschaft
Die umgebende Landschaft ist zugleich Kulturlandschaft, Erholungsraum und Produktionsgebiet. Steinmauern, Wege und Felder zeugen von jahrhundertelanger Arbeit. Das Label 100 % Valposchiavo fördert lokale Produkte und biologische Landwirtschaft (sie umfasst über 97 % der Flächen) und hält die gesamte Produktionskette im Tal – von Erzeugung über Verarbeitung bis zur Vermarktung.
Eine gute Infrastruktur, aber auch ein reiches kulturelles Leben mit Filmvorführungen und Konzerten halten den Ort lebendig.
Wirkung trotz symbolischem Preisgeld
Mit 20'000 Franken ist das Preisgeld eher symbolisch. Der eigentliche Wert der Auszeichnung liegt in ihrer Strahlkraft: Sie macht die Leistungen Poschiavos sichtbar und dient anderen Gemeinden als Inspiration. Welche Idee die Gemeinde mit dem Preisgeld konkret unterstützen wird, ist noch offen.
Für Giovanni Jochum, den Gemeindepräsidenten – im lokalen Dialekt «Podestà» genannt –, ist der Preis «eine Anerkennung dafür, dass wir in der Vergangenheit vieles richtig gemacht haben».
Auch wenn die Gemeinde mit ihrem langfristigen Engagement nicht auf eine Auszeichnung hingearbeitet habe, sei der Preis «eine Motivation für alle Beteiligten, sich weiterhin für unsere Gemeinde einzusetzen. Er wird alle Akteurinnen und Akteure ermuntern, sich im Sinne des Wakkerpreises noch stärker zu engagieren.»