Plu­ra­lis­mus vom Reiss­brett

Editorial von Tracés 4/2015

Publikationsdatum
03-03-2015
Revision
25-08-2015

Lyon Confluence, das neue Stadtquartier, das innerhalb weniger Jahre in Lyon aus der Erde gestampft wurde, unterscheidet sich kaum von ähnlichen Projekten in anderen grossen französischen Städten. Ob nun Euroméditerranée in Marseille, das Pariser Stadtsanierungsgebiet ZAC Rive Gauche oder Confluence, sie sind sich alle ähnlich: Es werden Häuserblocks dicht an dicht geplant, die abwechselnd Wohnungen und Büros mit mehr oder weniger einheitlichen Massen beherbergen, und es ist deutlich der Wille zur Diversifizierung über die Gestaltung der Gebäudehüllen zu erkennen. Dieser postmoderne «Haussmannismus», der eine morphologische Polyphonie heraufbeschwört, scheint von dem paradoxen Wunsch zu zeugen, quasi vom Reissbrett aus eine pluralistische Stadt erstehen zu lassen.

In Lyon nahm diese verordnete Heterogenität ungeahnte Ausmasse an und wurde regelrecht zum Zerrbild. Da reihen sich die neuen Wohnblöcke aneinander, einer individueller als der andere, ohne dass auch nur der Ansatz davon zu spüren wäre, dass sie miteinander in Dialog treten. Diese spektakuläre Diversität bleibt sehr oberflächlich, denn sie macht sich bei der Gestaltung der Wohnungen und Arbeitsplätze im Inneren der Gebäude kaum bemerkbar. Der Gedanke, dass der Aufwand für die Oberfläche hauptsächlich aus Budgetgründen zu einer gewissen Vernachlässigung bei den im Gebäudeinneren umgesetzten Lösungen führt, ist nicht von der Hand zu weisen. 

Diese auf Äusserlichkeiten ausgerichtete Architektur – eine tief sitzende Reaktion auf die erdrückend eintönigen Komplexe aus der zweiten Hälfe des 20. Jahrhunderts – scheint ebenfalls schon wieder passé zu sein. Das zeigt die zweite Phase des Confluence-Projekts, die auf Distanz zur französischen Doktrin eines solchen Städtebaus zu gehen scheint. Unter der Leitung von Herzog & de Meuron sowie unter Mitwirkung zweier weiterer Büros aus der Deutschschweiz wird in der zweiten Phase versucht, zu Gunsten einer gehörigen Portion helvetischer Nüchternheit den Fassadenmanierismus der ersten zu korrigieren.

Selbst wenn durch diese vorsichtige Korrektur immer noch keine wirkliche Stratifizierung der Stadt erreicht wird - dazu müssten deutlich mehr Instanzen und Stellen in die Stadtplanung involviert sein -, so ist es dennoch ein Schritt in diese Richtung. Die Entscheidung, vom postmodernen «Haussmannismus» abzukehren, bricht ein Konzept auf, das trotz seines kaleidoskopartigen Anscheins viel zu homogen ist. Aber will man wirklich eine vielschichtige, lebendige Stadt erreichen, muss man noch Dutzende weiterer Umbrüche und Kurskorrekturen derselben Art ersinnen.

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