Alles in Bewegung
An der Zürcher Stampfenbachstrasse fand ein Architekturexperiment auf dem frei finanzierten Wohnungsmarkt seinen Weg in die Realität – und hebelt mit seiner Bewegungsfreude das vermeintliche Axiom aus, dass Architektur statisch sei.
1927 liess der Künstler Marcel Duchamp in seinem Atelier in der rue Larrey in Paris eine Tür einbauen. Das Besondere daran: Die Tür war nie offen und nie geschlossen. Denn sie passte auf zwei Türrahmen, die rechtwinklig zueinanderstanden und das Scharnier miteinander teilten. Verschloss die Tür die eine Öffnung, war die andere offen, und umgekehrt. Duchamps Tür war ein gebautes Paradox, dessen Wirkung noch dadurch gesteigert wurde, dass es sich augenscheinlich um eine völlig konventionelle Tür handelte: mit hochrechteckigen Feldern und einem etwas zu zarten Griff, wie viele Pariser Türen seit dem 19. Jahrhundert.
Ein Bau für bewegte Biografien
In der Zürcher Stampfenbachstrasse 131 findet sich nun eine ganze Serie von Türen, die ebenfalls nie geschlossen und nie offen sind, Utensilien zur Einrichtung eines paradoxen Alltags: 23 der insgesamt 30 Mietwohnungen sind um eine annähernd raumhohe, drehbare Wand organisiert. Das Bauteil bewegt sich mit erstaunlicher Leichtigkeit um ein deutlich aussermittig positioniertes Gelenk. Die Architektin Elli Mosayebi von EMI Architekten nennt es «die abstrakteste Tür, die wir je gebaut haben».
Auch hier gibt es keine korrekte, klar definierbare Position: Die Tür-Wand kann die kleine Küche verschliessen und die Wohnung reduzieren auf Wohn- und Schlafbereich, sie kann Bett und Bad verschwinden lassen oder aber das Schlafen auf eine Koje beschränken, oder sie kann zwischen all diesen Positionen einfach im Raum stehen und sich selbst zelebrieren. Immer aber hebelt die drehbare Wand das Axiom aus, dass Architektur etwas Festes und Stillstehendes sei, um das herum sich das Leben abspielt, dass Grundrisse immer unveränderbar seien.
«Performatives Haus» nennen die Architekten den Bau mit den bewegten Wohnungsgrundrissen. Das ist etwas übertrieben, denn von allein bewegt die Wand sich nicht. Aber sie verführt dazu, sich bewegen zu lassen. «Ich glaube, dass Grundrisse nicht mehr fix sind», meint Mosayebi dazu. Die übrigen, schräg zueinanderstehenden Wände, die sich nicht verschieben lassen, sieht sie als «eine eingefrorene Bewegung».
Ursache der architektonischen Bewegung ist das bewegte Leben der Bewohnerinnen und Bewohner, für die der Bauherr und die Architekten die Wohnungen konzipiert haben: international ausgebildete und ausgerichtete Arbeitnehmer, die vielleicht zwei Jahre ihrer Berufsbiografie in Zürich verbringen, bevor es weitergeht in eine andere Stadt. Haushalte aus einer oder zwei Personen, vor der Familiengründung oder frei davon und auch von allerhand anderen Umständen, die eine dauerhafte Sesshaftigkeit versprächen oder interessant machten.
Solche «urbanen Nomaden», wie sie eher der Investor nennt als die Architekten, sind unterwegs ohne viel Ballast – und können das sein, denn die Wohnungen in der Stampfenbachstrasse bieten Vieles, das man ansonsten erwerben und dann weiterschleppen oder am Strassenrand stehenlassen müsste: Schränke sind in Form riesiger Schubladen vorhanden, die unter ein Podest gleiten, das ebenso leicht erhöhte Sitzfläche wie Bett sein kann. Es gibt eine Garderobenstange, die auch als ostentative Rennradgarage fungieren kann. Leuchten sind ebenfalls schon eingebaut, bauchige Glaskugeln am Ende langer und, wie könnte es anders sein, beweglicher Stahlstäbe.
Ein Traum der Moderne
Die Überwindung der Statik, der die Architektur scheinbar unentrinnbar unterworfen ist und die, sublimiert zur Tektonik, architektonische Ordnungsprinzipien über Jahrhunderte beeinflusste, war ein Traum der Moderne. Von den 1920er-Jahren, als Bauten sich plötzlich messen mussten mit Autos und Dampfern und in Mies van der Rohes Villa Tugendhat in Brünn das riesige Wohnzimmerfenster in den Boden glitt, bis in die 1960er-Jahre zu den fahrenden und fliegenden Städten von Archigram und der dramatischen Überhöhung der Bewegung im steten Lauf der demonstrativ vor die Fassade gehängten Rolltreppen des Centre Pompidou (1977).
Es ist bezeichnend, dass das «Performative Haus» aus einem Forschungsprojekt der Professur von Elli Mosayebi an der ETH Zürich hervorgegangen ist, die unter dem Titel «Zweite Moderne» firmiert. Diese fortgeschriebene, aber kritisch selbstreflektive Moderne ist geläutert von den negativen Nebenwirkungen einer allzu grossen Technikbegeisterung, und findet die Inspiration ihrer Beweglichkeit entsprechend nicht in Verkehrsmitteln, sondern im mobilen Leben, wie es zeitgenössische Lebensläufe widerspiegeln. Zugleich hallt in der metallenen Fassade ein wenig Technikbegeisterung nach, wie sie sich etwa bei Nicholas Grimshaw und anderen Briten findet, und die winzigen, übereinandergesetzten Balkone erinnern gewiss kaum zufällig ein wenig ans Bauhaus.
Vierzig Probebewohner haben in einem 1:1-Modell einer Wohnung, das zwischen 2019 und 2021 effektvoll auf dem Dach des Architekturdepartements der ETH platziert war, je eine Woche verbracht, wobei jede Bewegung eines Bauteils von Sensoren aufgezeichnet wurde. Nach Mülleimer und Kühlschranktür war die zentrale drehbare Wand das Objekt, das am meisten bewegt wurde, und zwar vor allem aufgrund eines äusseren Anlasses, wie die Forschungsgruppe herausfand: mit dem Tag-Nacht-Wechsel beispielsweise oder wenn Besuch kam.
Das nicht allein sensorisch, sondern auch qualitativ anhand von Fragebögen untersuchte Mock-Up fand seinen Weg nahezu unverändert in die bauliche Realisierung. Am 1. September sind die ersten Bewohnerinnen und Bewohner eingezogenen und dürfen dort nun unbehelligt von Forschungssensoren wohnen. Gleichwohl wird es natürlich interessant sein zu sehen, wie die bewegten Elemente langfristig angenommen werden und wie sie sich im Alltag bewähren; ob die Performanz tatsächlich Teil des Alltags wird oder ob die Faszination mit der Zeit nachlässt und die Elemente dann doch zur Ruhe kommen.
Denkbar wäre ja auch, dass gerade Menschen, von denen so viel Flexibilität gefordert wird, archi-tektonische Ruhe schätzen. Aber dann wären sie hier wohl kaum eingezogen. Die Nachfrage war, freut sich nicht nur der Investor, der bereits das Forschungsprojekt unterstützte, enorm. Gut 20 flexible Wohnungen sind zum strapazierten Zürcher Wohnungsmarkt freilich auch nur ein symbolischer Beitrag. «Das Projekt hat auch experimentelle Züge und passt wohl nicht für alle Nutzergruppen. Wir fanden es aber spannend, aus dem Ort heraus eine Wohntypologie zu entwickeln, die speziell für eine jüngere, mobile, vielleicht auch etwas nonkonformistische Bewohnerschaft zugeschnitten ist», so Yves Rogger von der Bauherrschaft, der Immobilienentwicklung UTOREM.
Nicht allein eine drehbare Wand
Sollte sich das gebaute Experiment im wahren Leben nicht bewähren, können Elemente wie das mit den Schubschränken versehene Podest ganz einfach entfernt werden. Und, wichtiger: Man würde den Wohnungen nicht gerecht, reduzierte man sie allein auf ihre Bewegungsfreude. Hier wie anderswo hat EMI bewiesen, dass sie derzeit wie nur wenige ihrer Kollegen in der Lage sind, vielfältige und spannende Grundrisse zu gestalten, auch ohne eine hohe Quadratmeterzahl.
Beinahe alle Wohnungen sind durch den L-förmigen Baukörper durchgesteckt, orientieren sich also ebenso zur Strasse hin wie ins Innere des Blocks, wo der Bau eine lebendige Fassade mit von Vorhängen umflatterten Aussenräumen bietet. Diese und die EMI-typischen Aufweitungen, Verengungen, Rücksprünge und natürlich auch ein Erker eröffnen ungewöhnlich viele und abwechslungsreiche Perspektiven. Schon allein das lässt kaum glauben, dass die durchschnittliche Grösse einer Wohnung nur wenig mehr als 50 Quadratmeter beträgt.
Ein Experiment also, das seinen Weg in die Realität absichert mit weiteren Qualitäten. Nicht zuletzt aber dürfte es auch deswegen ein Erfolg sein, da bedeutende Konventionen des neoliberalen Zeitalters hier nicht infrage gestellt werden, ja sie werden sogar zelebriert. «Performatives Haus» klingt vielleicht nicht absichtlich, aber doch unüberhörbar nach dem, was Arbeitgeber von ihren dafür hoffentlich gut bezahlten Angestellten verlangen: «performance» im Job, in einer Zeit, in der nur altbackene Firmen ihre Personalabteilung nicht als «human resources» bezeichnen. Die Flexibilität dieser Ressourcen ist nicht immer eine ganz freiwillige. Wenn Duchamp mit den Konventionen einer Pariser Wohnungstür spielte, um gerade so die Paradoxien des vermeintlich Normalen zu entlarven, fehlt hier eine solche kritische Dimension.
Am Bau Beteiligte
Bauherrschaft
UTOREM, Zürich
Architektur
EMI Architekten, Zürich
Tragkonstruktion
wlw Bauingenieure, Zürich
Holzbauingenieurwesen, Bauphysik
Timbatec Holzbauingenieure Schweiz, Zürich
HLS-Planung
Böni Gebäudetechnik, Oberentfelden
Elektroplanung
Gutknecht Elektroplanung, Au