Neu­es Mass beim Bau­en

Bauen für alle? –Soziale Nachhaltigkeit in der Architektur

Barrierefreies Bauen, Universal Design, Design for All: Diese Begriffe bzw. Konzepte stehen für sozial nachhaltiges Bauen, das den Bedürfnissen von Menschen mit unterschiedlichsten Fähigkeiten gerecht werden soll. Die Veranstaltung vom 7. Mai im Volkshaus Zürich zeigte Denkansätze und Umsetzungsmöglichkeiten auf.

Publikationsdatum
08-05-2012
Revision
01-09-2015

«Für mich, für uns, für alle»

Das Eingangsreferat von Ulrike Rau (Architektin und Vorsitzende des Ausschusses Barrierefreie Stadt- und Gebäudeplanung der Architektenkammer Berlin) gab die Denkrichtung vor: Rau möchte jetzt in einem Gebäude leben, das ihr auch im Alter noch möglichst viel Bewegungsfreiheit erlaubt. «Barrierefreiheit» versteht sie nicht in erster Linie als Zusatzinvestition wegen spezieller Bedürfnisse Behinderter. Massstab für das Bauen dürfe nicht mehr der unversehrte (männliche) Mensch sein wie bisher, vielmehr müsse es sich auf den Menschen in seinen verschiedenen Lebensphasen und mit jeweils unterschiedlichen physischen und kognitiven Fähigkeiten ausrichten. Rau möchte in diesem Zusammenhang den Begriff «Inklusion» in den Köpfen von PlanerInnen und Bauherrschaften verankert wissen. Er stammt zwar aus der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, verweist aber auf den zentralen Punkt: Barrierefreiheit verstanden als Möglichkeit der Nutzung durch alle.
Auf dem Weg zu diesem Ziel sind vermehrt alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit zu beachten – nebst der ökonomischen und der ökologischen auch die soziale. Das Konzept des «Universal Design» gibt hierzu Denkanstösse und zeigt Möglichkeiten zur Umsetzung auf. Der Begriff Barrierefreiheit wird – beispielsweise – über die Zugänglichkeit für Rollstuhlfahrende hinaus auf motorische, sensorische und kognitive Kompetenzen erweitert.
Einige Beispiele: Türklingeln mit Gegensprechanlagen an Haustüren oder Türfallen müssen nicht nur von unterschiedlich grossen, kräftigen und geschickten Menschen erreichbar und bedienbar sein, sondern auch verschieden ausgeprägte Hör- und Sehfähigkeiten berücksichtigen. Hier gilt das Zwei-Sinne-Prinzip: Hören und Tasten/Fühlen bei eingeschränkter Sehfähigkeit, Sehen und Tasten/Fühlen bei vermindertem Gehör. Bei der Türklingel mit Gegensprechanlage kann die Lösung in der Kombination eines akustischen und eines optischen Signals («Bitte eintreten», «Bitte sprechen») bestehen. Leuchtdichtekontraste, etwa dunkle Türgriffe auf weissen Türen, helfen Sehbehinderten (monochrome Architektur ist deshalb niemals barrierefrei!), Raumlicht, das gut ausleuchtet und damit auch das «Mundbild» besser sichtbar macht, kommt Hörbehinderten entgegen – die Beispiele wie die Zielgruppen können beliebig erweitert werden. Für Rau gilt deshalb: «Universal Design» bedeutet Komfort für alle.

Fehlende Umsetzung aufgrund von Wissenslücken und Verdrängung

Weshalb trotz der Dringlichkeit in der Architektur der Diskurs über soziale Nachhaltigkeit fehle, wollte Franziska Felder, Studienleiterin Gesellschaft und Behinderung an der Paulus-Akademie und Moderatorin der Veranstaltung, zu Beginn der Podiumsdiskussion von den Teilnehmenden wissen. Rau konstatierte, dass in Deutschland die einschlägigen Kenntnisse bei den PlanerInnen (aber auch bei den Bauherrschaften) nicht vorhanden seien – sie hätten noch nicht verstanden, dass «Universal Design» jedermann, also auch ihnen selbst, zugute komme, und sie hielten barrierefreies Bauen schlicht für «nicht sexy».
Gute Lösungen wären oft mit Universal-Design-Konzepten zu finden, ist Anne Uhlmann von birchmeieruhlmann Architekten überzeugt. Sie scheiterten aber in der Praxis häufig am fehlenden Verständnis aufseiten der Bauherrschaft und an den einschlägigen Normen. Diese wirkten teilweise einschränkend und führten zu eher schematischen, also weniger attraktiven Lösungen. Sie möchte deshalb die Kritik an den Berufskollegen so nicht gelten lassen. Architektur, insbesondere in diesem Bereich, habe viel mit Prototypen zu tun. ArchitektInnen seien daran interessiert, gut zu bauen – und wenn sich einmal durch die Nutzung herausstellen sollte, dass ein Detail doch nicht ganz gelungen sei, lasse das nicht automatisch auf fehlendes Wissen oder Interesse des Architekten schliessen. Die Bauherrschaft müsse in diesem Fall das Gespräch für eine Verbesserung suchen ­– ein Plädoyer also für einen Diskurs über die Fachkreise hinaus.
Joe Manser, Architekt und Geschäftsführer der Schweizerischen Fachstelle für behindertengerechtes Bauen, Zürich, verteidigte hingegen das Normenwerk. Rund 15'000 Objekte kämen in der Schweiz jährlich aufgrund des Behindertengleichstellungsgesetzes in den Fokus für Umbauten. Es gehe dabei nicht um das reine Erfüllen der Normen – diese würden umschreiben, worum es gehe. Explizit stehe deshalb in der SIA 500 Hindernisfreie Bauten, dass Abweichungen zulässig seien, wenn nachgewiesen werden könne, dass eine andere Lösung besser sei. Gerade auch beim Umbau von denkmalgeschützten Bauten seien so im Gespräch mit den Verantwortlichen jeweils Lösungen zu finden. Die Frage sei vielmehr, welche Prozesse dazu führten, dass sozial nachhaltig zu bauen ebenso «sexy» werde, wie es in Bezug auf die Ökologie inzwischen der Fall sei. Rau fügte an, Freiheit in der Umsetzung setze Wissen um «Universal Design»-Produkte und -Lösungen voraus.
Dass soziale Nachhaltigkeit in der Architektur kaum diskutiert wird, sieht Daniel Grob, Medizinischer Direktor der Klinik für Akutgeriatrie des Zürcher Stadtspitals Waid, im Verdrängen des Alt- und Gebrechlich-Werdens begründet, im Jugendlichkeitswahn unserer Zeit. Wir kommen aber nicht um die Diskussion herum, davon ist Grob nur schon aufgrund der zunehmenden Überalterung überzeugt. Bauten wie die in den 1950er- bis 1970er-Jahren erstellten «Geronto-Deponien» könnten wir uns künftig nicht mehr leisten. Und wir alle wollten nicht ins Alters- und Pflegeheim, wenn wir wählen könnten – es werde deshalb unausweichlich so kommen, dass die Menschen länger zu Hause bleiben. Aber auch alte Menschen seien keine «homogene Biomasse» – Diversität in der Architektur umzusetzen sei deshalb deren Herausforderung. Es brauche Wohnungen, die mit kleinen Eingriffen auch nachträglich auf spezielle Bedürfnisse eingerichtet werden können.

Unüberwindliche Zielkonflikte 

Unterschiedliche Bedürfnisse von Zielgruppen können zu Lösungen führen, die nicht allen gleichermassen gerecht werden. Aber die Frage, ob der Anspruch überrissen sei, dass Bauten jedermann zugänglich sein müssten, will Manser nicht einmal diskutieren. Gutes Design bringe die verschiedenen Ansprüche unter einen Hut. Zu unterscheiden seien jedoch Gebäude für spezifische Zielgruppen vom Gros aller Bauten, und bei bestehenden Bauten stelle sich die Frage der Verhältnismässigkeit. Grundlage sei jedoch in jedem Fall die Anforderung «Form follows function».
Uhlmann und Rau hingegen sind davon überzeugt, dass nicht jeder Zielkonflikt gelöst, nicht jedes Haus universell nutzbar gemacht werden kann und wir damit leben müssten. Die Verantwortung für eine möglichst optimale Umsetzung dürfe auch nicht allein an die Architekten abgegeben werden.

Bessere Lösungen durch Einbezug der Nutzer 

Für Rau hängt ein Einbezug davon ab, ob die Nutzer Planungserfahrung haben. Fehle diese, sei der Fokus völlig auf die persönlichen Bedürfnisse ausgerichtet und die Lösungsfindung entsprechend erschwert.
Uhlmann wäre offen für einen Dialog mit Nutzergruppen, konstatiert jedoch, dass bei ihren Aufträgen kaum je die Nutzer mit ins Spiel kamen. Und in den seltenen Fällen, wo etwa ein Hauswart einbezogen werden konnte, dessen Bedürfnisse ihrer Meinung nach auch weitgehend umgesetzt wurden, musste sie feststellen, dass dieser trotzdem mit dem Ergebnis nicht zufrieden war. Architektur habe eben viel mit Übersetzen zu tun.
Die Frage hängt für Grob von den Nutzergruppen ab. So wäre ein Einbezug von Paraplegikern sinnvoll, Demenzkranke wiederum benötigten eine Vertretung ihrer Interessen. Beim Umbau des Waidspitals stellten sich Grob aber weniger Schwierigkeiten in der Kommunikation mit Architekten oder Nutzern als darin, die Bedürfnisse bzw. die Lösungen für eine bedürfnisgerechte Umsetzung der Bauherrschaft zu vermitteln, wenn sie von deren konkreten Forderungen an den Bau abwichen. Grob hat deshalb gebaute Beispiele, auch im Ausland, gesucht, die seinen Vorstellungen entsprachen, und sie zusammen mit der Bauherrschaft besichtigt – dies habe überzeugt.
Manser plädiert unbedingt für einen Einbezug der Nutzer, auch um mögliche Lösungen zu testen. Allerdings gebe es Nutzergruppen, denen keine Tests zugemutet werden können. Hier sei der Einbezug von Vertretern geboten.
Einig war sich das Podium schliesslich in der Forderung, dass der sozialen Nachhaltigkeit im Architekturstudium erheblich mehr Gewicht zukommen müsse.

Kritische Voten

Aus dem Publikum wurden die Maximalforderungen an die Zugänglichkeit der Bauten teilweise kritisch angemerkt. Der Leiter des Behindertenwerks St. Jakob etwa bestätigte, dass die Behinderten wohl autonom sein möchten, aber gleichzeitig wollten sie integriert sein. Dies geschehe jedoch auch über gegenseitige Hilfe, die bei zu viel «Selbstständigmacherei» verloren gehe.
Dass auch «Verrechtlichung» zu Entsolidarisierung führe, bejahte Grob. Allerdings erlebe er vermehrt bei Patienten, dass diese sich nicht helfen lassen, gar nicht mehr leben wollten, wenn sie nicht mehr selbstständig sein könnten. Der Trend zur Individualisierung ist seiner Meinung nach nicht aufzuhalten.
Für Manser schliesslich sind das alles keine Gegensätze: Barrierefreiheit sei einfach eine Voraussetzung, die geboten werden müsse.

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