Die Nach­barn der Vil­la Frei­en­st­ein

Wie lassen sich neue Wohnkonzepte in eine historische Parkanlage ­einbetten? Architekt Reto Fuchs suchte in seinem Erstlingswerk nach Antworten und überzeugte damit nicht nur die Jury des Foundation Awards.

Publikationsdatum
07-09-2023

Die Altstadt von Glarus zeugt noch heute von der Brandnacht im Jahr 1861. Nachdem das Feuer zwei Drittel der Bau­substanz verwüstet hatte, wurde der Kantonshauptort auf einem orthogonalen Raster wiederaufgebaut. Nur wenige Häuser stehen schräg in diesem neuen Stadtgefüge. Eines davon ist die Villa Freienstein, die als einer der wenigen Herrschaftsbauten den Brand von Glarus überstanden hat.

Nach über 175 Jahren in Familienbesitz gab es in der Villa Freienstein und dem dazugehörigen Park einen Handwechsel. Das Bieterverfahren weckte das Interesse von einigen Investoren, da das 3500m² grosse Grundstück Platz für bis zu 14 Wohn­einheiten bot.

Auch Reto Fuchs, ein Glarner Architekt, wurde auf das Objekt aufmerksam und reichte sein Kaufangebot mit einem Entwurf für die Nutzung des Parks ein. Er zielte jedoch nicht auf die maximale Rendite ab, sondern auf die grösstmögliche Wahrung des Aussenraums: Sein Vorschlag zeigte eine gemeinschaftlich genutzte Parkanlage und vier Reiheneinfamilienhäuser, die das Pendant zum historischen Haupthaus bilden sollten. Nachdem der meistbietende Investor mit einem Projekt bei der Glarner Denkmalpflege gescheitert war, gewann Fuchs den Prozess für sich. Der sorgfältige und gemeinnützige Umgang mit dem bestehenden Park ­überzeugten sowohl die Besitzerfamilie als auch die Denkmalpflege.

Während die kollektive Nutzung von Haus und Garten in den Schweizer Grossstädten längst Einzug gehalten hat, ist ein solcher Ansatz in Glarus geradezu revolutionär: Der Park Freienstein ist derzeit das einzige Wohnprojekt auf gemeinschaftlicher Basis im Kanton. In der Vergangenheit beherbergte die repräsentative Anlage gerade mal drei Personen. Wie sehr sich die Nutzung des Parks durch das Neubauprojekt gewandelt hat, verraten heute ein blau-­gelbes Kinderschwimmbecken und ein grosser, von Bewohnern und Gästen rege genutzter «Gemeinschaftstisch» mit Grillstelle: Der Garten der Villa ist ein Treffpunkt für den nachbarschaftlichen Austausch geworden und wird neuerdings von 17 Erwachsenen und bald elf Kindern belebt.

Mitgestalten erwünscht!

Die Eingänge zu den vier Einfamilienhäusern befinden sich stadtseitig. Davor spannen sich gepflasterte Vorplätze auf, die an kleine italienische Piazze erinnern und Raum für je einen Jungbaum bieten, den die Bewohnerinnen und Bewohner selbst aussuchen konnten. Das Prinzip der Mitbestimmung ist auch im Innern zu spüren: Der Architekt überliess der neuen Bewohnerschaft beispielsweise die Wahl der Wandfarbe im Treppenbereich oder die Gestaltung von Küche, Wohn- und Esszimmer. Dadurch entstanden trotz identischem Grundriss vier einzigartige Häuser, die einen starken Bezug zu den Persönlichkeiten ihrer Bewohnerinnen und Bewohner aufweisen.

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Im Erdgeschoss befinden sich nebst dem Eingangs­bereich eine Garage, Abstellräume sowie zwei Zimmer mit offener Nutzung, die zum Park ausgerichtet sind. Letztere werden zurzeit als Büro, Gästezimmer oder Einliegerwohnung verwendet. Um den unterirdischen Wasserfluss nicht zu stören, sind die Häuser nicht unterkellert.

Eine Treppe, die alle drei Stockwerke mit einer Sichtachse verbindet und laut Fuchs «das Rückgrat der Wohnung» bildet, führt in den mittleren Stock, der drei Schlafzimmer und zwei Nasszellen beherbergt. Ganz oben sind die Küche sowie der Ess- und Wohnbereich untergebracht, flankiert von einer privaten Dachterrasse.

Die Umkehrung der konventionellen Anordnung mag auf den ersten Blick erstaunen, ist aber für diesen Standort durchaus sinnvoll: Im Schatten der Bäume bleiben die unteren, privateren Stockwerke kühl, während man im offenen, hellen Wohngeschoss den Blick ins Blattwerk geniesst.

Park im Norden, Stadt im Süden

Früh wurde klar, dass sich der Garten aufgrund seiner Lage im Schatten der Neubauten für private Aussenräume nicht besonders gut eignet. Ausserdem sollte der Park der gemeinschaftlichen Nutzung vorbehalten bleiben. Reto Fuchs machte sich die Not zur Tugend und projektierte stattdessen für jedes Haus eine private Dachterrasse, die sich auf knapp 50m² über die gesamte Gebäudetiefe erstreckt. Diese Terrasse bietet als Gegenstück zum Park einen Rückzugsort im Schutz der mächtigen Baumkronen. Begrenzt wird sie durch die Rückwand des Nachbarhauses, die in der Mitte minimal geknickt ist, sodass sich die Grundfläche Richtung Park leicht öffnet. Ohne dieses kaum wahrnehmbare Gestaltungselement hätte sich dieser Aussenraum wie ein Schlauch angefühlt, meint Fuchs. Er überprüfte die räumliche Wirkung seines Entwurfs regelmässig im 3-D-Modell mit VR-Brille.

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Mit Sitznischen, vordefinierten Orten für Pflanztröge sowie der eigens entworfenen Pergola ist die durchgesteckte Dachterrasse mit Liebe zum Detail gestaltet. Im Norden erblickt man den Park, im Süden die Fassaden der Nachbarhäuser. Oder, um es mit den Worten des Architekten zu sagen: «Man lebt mit den Vögeln in den Bäumen, mitten in der Stadt.» Dieses Thema des unterschiedlichen Ausblicks ist auf allen drei Stockwerken erlebbar und von der historischen Villa Freienstein inspiriert, die ebenfalls eine Stadt- und eine Gartenseite besitzt.

Ein Spiel mit Kontrasten

Die Neubauten gliedern sich stimmungsvoll und subtil in die bestehende Parkanlage mit der Villa Freienstein ein. Sie schaffen einen wirkungsvollen Kontrast zur historischen Nachbarin und ordnen sich gleichzeitig unter. Anstelle eines prominenten Sockels, der die ­Fassade des Herrenhauses auszeichnet, sind die Neubauten mit einer Schattenfuge vom Boden getrennt. Leichtfüssig kaskadieren die sandgestrahlten Beton­elemente, die den Übergang von den Privatbereichen zum gemeinschaftlichen Raum markieren, in den Park.

Im Gegensatz zur steinernen Fassade der Villa erscheinen die Reiheneinfamilienhäuser in sägerohem Holz. Je nach Witterung, Jahres- und Tageszeit camou­fliert der grau-grüne Anstrich die Neubauten in der Baumlandschaft oder lässt sie als stimmigen Hintergrund des Parks erscheinen. Feine, hellgraue Holzlisenen gliedern die Fassade, unterteilen die grossen Fenster und betonen die Vertikalität der Wohntürme. Eine ver­zinnte Rundung schlägt wortwörtlich einen Bogen zwischen dem privaten und halb-öffentlichen Raum: Dieses spielerisch eingesetzte Element tritt als markante Basis der turmförmigen Häuser auf und verkörpert den Abschluss des Privatbereichs – gleichzeitig bildet es durch seine Form einen Raum aus, der das Gemeinschaftliche betont.

Biodiversität im Gemeinschaftsgarten

Am westlichen Rand der Parkanlage ragen zwei geschützte Blutbuchen in die Höhe. Darunter findet sich eine reiche Pflanzenlandschaft aus ortstypischer Flora. Ein Taubenschwanz surrt über einer blühenden Hortensie, Insekten beleben den Gartenboden – es kreucht und fleucht. Der ehemalige Englische Garten ist biodiverser geworden und in Zonen mit unterschiedlichen Nutzungen unterteilt: hier ein kühler Rückzugsort, dort eine sonnige Spielwiese. Die unterschiedlichen Standortbedingungen führen in der Pflanzen- und Insektenwelt zu einer grossen Artenvielfalt und werten den Garten ökologisch auf. Reto Fuchs wurde deswegen für den «Binding Preis für Biodiversität 2023» nominiert und schaffte es in die Endauswahl.

Auf die Frage, was die grösste Herausforderung am Projekt gewesen sei, antwortet der Architekt: «Die Verantwortung dem Ort gegenüber.» Dieser Respekt ist an unterschiedlichen Stellen zu sehen: an der sorgfältigen Ausgestaltung der Fassaden, am grösstmöglichen Erhalt der historischen Parkanlage oder selbst an Details wie dem regionalen Linthschotter unter den Füssen. Trotzdem wirkt das Projekt nicht reaktionär. Ganz im Gegenteil: Mit der moderaten Verdichtung der historischen Parkanlage sowie deren Öffnung für eine gemeinschaftliche Nutzung überführte Reto Fuchs das Kulturgut rücksichtsvoll in die Gegenwart und befindet sich mit seinem Erstlingswerk ganz am Puls der Zeit.

Weitere ausgezeichnete und nominierte Projekte des Foundation Award 2023 finden Sie in unserem E-Dossier.

Neubauten Park Freienstein, Glarus

 

Architektur
Atelier Freienstein, Reto Fuchs (für Fuchsbau Architekten), Glarus

 

Tragkonstruktion
tbf Marti, Schwanden GL

 

HLK-Planung
Landolt Heizungen, Näfels GL

 

Fenster
Baggio Fenster+Türen, Niederurnen GL

 

Landschaftsarchitektur
Beglinger+Bryan, Zürich und Mollis GL

 

Energieversorgung
Luft-Wasser-Wärmepumpe

 

Grundfläche (SIA 416)
1218 m²

 

Baukosten (BKP 2)
3.1 Mio. Fr.

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