Carlo Mollino: Architekt und Geschichtenerzähler
Kunst, Design, Fotografie – der italienische Architekt Carlo Mollino liess sich auf kein Genre festlegen. Eine neue Publikation widmet sich seinem aussergewöhnlichen Werk.
Mit Vorliebe liess sich Carlo Mollino (1905–1973) in rasanten Autos oder sportlich-abenteuerlichen Situationen ablichten. Blendend gekleidet und frisiert, dazu düster dreinblickend, verkörperte er den perfekten Dandy während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Oberitalien. Portraits von dahinfliessend drapierten Models dienten ihm zur Illustration seiner Möbelunikate und machten ihn populär.
Statt seine entwerferischen Fähigkeiten zu verbreiten, trugen die Fotos aber eher zur Untermauerung eines zweifelhaften Rufs bei. Zu Unrecht geriet dabei die Qualität des komplexen Schaffens in den Hintergrund, von dem die inszenierte Fotografie nur eine Facette war. In erster Linie verstand sich Mollino als Architekt. Inspiriert von den Arbeiten Erich Mendelsohns oder Alvar Aaltos bewegte sich sein Gestaltungsbegriff vom Poetisch-Organischen hin zu einem biomorphen Formenkanon. Eine Fülle von Skizzen und Zeichnungen belegen seien ungeheure Produktivität, die sich nicht auf einzelne Genre begrenzte.
Diesen Kosmos zwischen surrealen Phantasien und technischen Studien sowie das Leben an der Rennstrecke und in den Salons der Intelligenzia umreisst der erste Teil der Publikation. Den wichtigsten Arbeiten seiner gebauten und zum grösseren Teil ungebauten Architektur ist das zentrale Kapitel des Buchs gewidmet. Leider sind auch einige der realisierten Gebäude inzwischen zerstört. Nicht aber das Ferienhaus in Champoluc im Aostatal, für das Mollino ein historisches Chalet aus dunklen Holzbalken abbauen und auf einem hohen Steinsockel an anderer Stelle wieder aufbauen liess. Dazu fügt er eine Aussentreppe, die der Ästhetik des Flugzeugbaus eine Referenz erweist.
Die Frechheit, mit der er die Komponenten zu einem schlüssigen Ganzen fügt, bildet Mollinos unkonforme Denkweise exemplarisch ab. Ebenfalls erhalten und einen Besuch wert ist das Teatro Regio in Turin. Durch einen Wettbewerbsgewinn 1963 konnte Carlo Mollino am Wiederaufbau des Hauses, das nach einem Feuer zum Ende des Zweiten Weltkriegs bis auf die Fassade zerstört worden war, mitarbeiten. Die Bauarbeiten zogen sich von 1965 bis 1973 hin und es war das letzte Werk, das er vollendete.
Der Zuschauerraum in Form von einem Ei bildet das Zentrum des Gesamtkunstwerks, und auch die neue Aussenhülle und das Dach umschliessen den Baukörper mit einem Schwung. Sein Interesse an der runden Form liess sich in der Innenarchitektur und im Design weitaus unkomplizierter umsetzen. Als Skifahrer beschäftigte er sich mit der Biegsamkeit von Materialien und gelangte zu neuartigen Verfahren, die er auf den Möbelbau übertrug und patentieren liess. Seine dynamischen Möbel, die zuletzt Höchstpreise auf Auktionen erzielten, haben einen eigenen Stellenwert in der Geschichte. Dennoch gingen seine Ideen oftmals über das Machbare hinaus.
Zum Glück war Carlo Mollino eitel genug, seine Skizzen, Fotografien und Zeichnungen sorgfältig zu beschriften und aufzubewahren. Ein Archiv im Polytechnikum Turin sichert heute die angemessene Unterbringung und Zugänglichkeit. Einen weiteren Blick in seine Gedankenwelt bietet eine Wohnung in Turin, die er vor seinen Freunden geheim hielt und angeblich nie bewohnte. Wie in einer okkulten Stätte versammelte er hier zwischen Tapetentüren und Spiegelwänden Möbel und Gegenstände, deren Schöpfung er bewunderte und mit denen er sich umgeben wollte, wenn er auf dem Sterbebett läge. Leben und Werk des Tausendsassas bieten reichlich Stoff für diesen anregenden Schmöker.
Napoleone Ferrari, Michelangelo Sabatino: Carlo Mollino, architect and storyteller. Park Books, Zürich 2022. 456 Seiten, 502 farbige und 45 sw-Abb., 24 × 32 cm, gebunden, in engl. Sprache. ISBN 978-3-03860-133-3, Fr. 99.–
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