Ak­te der Ver­söh­nung

Kongresshaus, Zürich (ZH)

Geliebt, bewundert, ergänzt, verunstaltet, ertüchtigt, restauriert und weitergebaut – seit drei Generationen ist das Kongresshaus Zürich ein verbindender, identitätsstiftender Bau für die ganze Stadt. Es zeigt: Heimat setzt Schönheit und Dauerhaftigkeit voraus. Die Nützlichkeit lässt sich nach Bedarf anpassen.

Publikationsdatum
24-02-2022

Viel wird geklagt über die Entfremdung zwischen hoher Kunst und breitem Publikum, schwer zugänglicher Elite- und leicht konsumierbarer Populärkultur. Doch es gibt Werke, die sowohl Profis als auch Laien überzeugen, weil ihre Qualität alle Ebenen der menschlichen Wahrnehmung durchdringt, intellektuell wie emotional, bewusst wie unbewusst. Was sie zu sagen haben, geht alle etwas an; und sie sagen es so, dass es alle verstehen. Sie verkörpern den Geist einer Zeit, eines Orts. Sie bilden einen Kristallisationspunkt für die gemeinsame Identität der Menschen, die sie kennen. Sie werden zu einer geistigen oder physischen Heimat, verbinden und versöhnen.

Im Video erklärt Judit Solt, weshalb das Projekt in ihren Augen für hohe Baukultur steht.

Solche Werke sind selten. Doch weil sich ihre Wirkung nicht auf eine einzelne, vielleicht vergängliche Eigenschaft beschränkt, können sie die Zeiten überdauern. Jenseits wechselnder Modeströmungen bleiben sie im Selbstverständnis der Menschen verankert, bis sie wieder hervorgeholt, neu interpretiert und in Wert gesetzt werden: Sie gehören zu jenen dauerhaften Bausteinen, die jede Generation braucht, um ihre kulturelle Identität zu festigen.

Brücke in der Zeit

Das Kongresshaus in Zürich ist ein solches Bauwerk. Als es 1939 anlässlich der Schweizerischen Landesausstellung eröffnet wurde, stand der Zweite Weltkrieg kurz bevor. Der in nur zwei Jahren errichtete Bau bildete einen festlichen Kontrapunkt zur düsteren Realität jener Tage und sollte das Bild einer gemässigten, selbstbewussten Schweiz vermitteln. Er war auch ein Gemeinschaftswerk. Der Zeitdruck und der schwierige Baugrund – das ehemalige Seegebiet war erst vor ­wenigen Jahrzehnten aufgeschüttet worden – erforderten eine Aufteilung der Mandate an unterschiedliche Ingenieurbüros, darunter Grössen wie Robert Maillart und Robert Naef, und an mehrere Baufirmen. Zudem waren viele Handwerker beteiligt: Die aufwendigen Details und die eindrückliche Qualität der Ausführung waren Mittel, die Arbeits­losigkeit durch staatliche Aufträge zu lindern. Das Ergebnis war nicht nur eine Leistungsschau der Schweizer Bauwirtschaft, sondern auch ein Zeugnis von Einigkeit und Solidarität.

Mehr Artikel zum Thema Baukultur: Qualität und Kritik finden Sie in unserem E-Dossier.

Vor allem aber war das Kongresshaus schön. Es traf den ästhetischen Nerv seiner Zeit, einer Zeit der bedrohlichen Umbrüche. Die Architekten Max Ernst Haefeli, Werner Max Moser und Rudolf Steiger gehörten zu den Verfechtern des Neuen Bauens, als Mitglieder des Con­grès International d’Architecture Moderne CIAM waren sie international vernetzt. Das Kongresshaus demonstriert moderne Gestaltungsprinzipien wie fliessende Übergänge zwischen innen und aussen, lichtdurchflutete Räume und schlichte Geometrien. Dennoch ist es kein gebautes Manifest für einen radi­kalen Neu­anfang; traditionelle Handwerkskunst – Sgraffito und ornamentale Holz-, Metall- und Steinmetzarbeiten – finden darin ebenso Platz wie klassische Proportionen und organische Formen.

Der Bau verkörpert eine Entwurfshaltung, die es nicht nötig hat, sich durch die Auslöschung alles Alten zu beweisen, sondern reif genug ist, um dessen Elemente auf neue Weise weiter zu pflegen. Er steht für Fortschritt im Sinn des ruhigen Fortschreitens: ein Schritt nach dem anderen. Es gab ein Vorher, und es wird ein Nachher geben. Der Bau ist eine ­Brücke in der Zeit. Was einzelne Kritiker – damals und später – als mangelnde Konsequenz des moderat modernen «Landistils» bekrittelten, erweist sich je länger, je mehr als eindrückliche ­bau­kulturelle Leistung.

Gemeinsam wachsen

Dazu gehört auch, dass Teile des Vorgängerbaus integriert wurden. Das Trocadéro von 1895, ein historistischer Palast der Wiener Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Helmer, wurde grösstenteils abgerissen, doch das Vestibül und die beiden Tonhallesäle blieben erhalten. Das Kongresshaus wurde darübergestülpt. Trotzdem wirkt der Neubau nicht wie eine heutige Mantelnutzung, die den eigentlichen Zweck eines Gebäudes verbirgt, sondern tatsächlich wie ein Mantel, der sich massgeschneidert an den alten Baukörper schmiegt, bevor er sich zu neuen Formen aufbauscht.

Zwischen Alt und Neu durchmass das Foyer die ganze Tiefe des Gebäudes, ein für Zürich ungewöhnlich grosszügiger, doppelgeschossiger öffentlicher Raum mit einer fein orchestrierten Abfolge von Lichtstimmungen und Sichtbezügen. Wenn man ihn durchschritt, erblickte man See und Berge, Gärten und Terrassen, Lichthöfe und Laternen, Treppen und Raumfluchten – eine gut zürcherisch zurückhaltende Art, die eigene Pracht zu zelebrieren.

Ein Teil dieser Qualität wurde durch spätere Umbauten beeinträchtigt. In den 1980er-Jahren wurde der Gartenhof aufgehoben, und der auf der ursprünglichen Terrasse neu errichtete Panoramasaal zerstörte den Bezug vom Foyer zum See. In den Nullerjahren kam die Idee auf, den Bau bis auf die Tonhalle abzureissen und durch ein neues Kongresszentrum zu ersetzen. Doch trotz massivem politischem Druck verwarf das Stimmvolk 2008 das Vorhaben und bewilligte stattdessen 2016 eine Ertüchtigung.
Diese wurde 2021 vollendet und erweist sich nun wieder als Meisterleistung: Die Planergemeinschaft von Elisabeth und Martin Boesch,

Diener & Diener sowie Conzett Bronzini Partner hat nicht nur entstellende Einbauten entfernt und Verstümmeltes ergänzt, sondern das Kongresshaus auch weitergebaut. Dank einer ebenso klugen wie mutigen Rochade von Räumen gelang es, das Haus ins Heute zu überführen. Am neuen Gartensaalfoyer gliedern sich zwei neue Säle, das Restaurant steht als filigraner verglaster Pavillon auf der wiederherge­stellten Terrasse. Die Brandschutz- und Erdbebennormen sind erfüllt, die Licht-Raum-Komposition erstrahlt in neuer Harmonie, die elegante, heitere Stimmung ist zurück. Das Haus wurde im Geist des ursprünglichen Entwurfs weitergebaut, ohne Anbiederung und ohne forcierten Kontrast, aus einer selbstbewussten zeitgenössischen Haltung heraus. Der nächste Schritt ist getan. Die Brücke in der Zeit hält.

Dieser Artikel ist erschienen im Sonderheft «Baukultur: Qualität und Kritik». Bestellen Sie jetzt!

Kongresshaus, Zürich (ZH)

 

Am Bau Beteiligte
Bauherrschaft
Kongresshaus-Stiftung Zürich, vertreten durch das Amt für Hochbauten der Stadt Zürich

 

Denkmalpflege
Kantonale Denkmalpflege, Zürich

 

Architektur
ARGE E. und M. Boesch, Zürich; Diener & Diener, Basel

 

Tragwerksplanung
Conzett Bronzini Partner, Chur

 

Gesamtleitung
Hämmerle Partner, Zürich, ab 1. 10. 2018; OAP Offermann Architektur & Projekte, Zürich

 

Baumanagement
Jaeger Baumanagement, Zürich

 

HLKKS-Planung
Gruenberg + Partner, Zürich

 

Elektrotechnik
HKG Engineering, Schlieren

 

Landschaftsarchitektur
Vogt Landschaftsarchitekten, Zürich

 

Bauphysik
BWS Bauphysik, Winterthur

 

Brandschutzplanung
Basler & Hofmann, Zürich

 

Lichtplanung
Bartenbach, Zollikon

 

Projektdaten
Fertigstellung
2021

 

Baugeschichte
«Neue Tonhalle»: 1895
Architekten Ferdinand Fellner und Hermann Gottlieb Helmer
Umbau der Tonhalle und Neubau des Kongresshauses: 1939
Architektur: Haefeli Moser Steiger

 

Tragwerksplanung: Robert Maillart, Bucher & Braun, Schubert & Schwarzenbach, R. A. Naef

 

Diverse Unterkellerungen, Um-, An- und Aufbauten: 1947, 1953, 1979, 1985

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