«Ich möch­te, dass die Schweiz in der En­er­gie­fra­ge zu den Vor­rei­tern ge­hört, nicht zu den Nach­ah­mern»

Abstimmung über die Energiestrategie

Publikationsdatum
20-04-2017
Revision
21-04-2017

SIA: Herr Altenburger, am 21. Mai stimmt die Bevölkerung über die Energiestrategie ab. Die Bauwirtschaft steht nicht geschlossen dahinter. Warum nicht?
Adrian Altenburger: Die grosse Mehrheit der Bauwirtschaft steht – und das zeigt die Empfehlung der Dach­organisation «Bauen Schweiz» – hinter der Energiestrategie 2050. Insbesondere Architekten, Inge­nieure sowie Gebäudetechnik-unter­nehmen und -industrie können mit ihren Innovationen nicht nur national, sondern auch international Zeichen setzen. Sie sehen nebst der gesellschaftlichen Verantwortung vor allem auch die unternehmerischen Potenziale. Umgekehrt kann man konstatieren: Je traditioneller und in der Sache weniger kompetent die Institu­tionen und Wortführer sind, desto kritischer ist die Haltung – nach dem Motto: «Was ich nicht ver­stehe, muss ich auch nicht unterstützen.» Konsequenter wäre in solchen Fällen dann allerdings, sich der Stimme zu enthalten.

SIA: Was sind die wesentlichen Elemente der Vorlage zur Energiestrategie, über die die Stimmbürger am 21. Mai abstimmen?
Adrian Altenburger: Die konkrete Vorlage betrifft das erste Massnahmenpaket, das konsequent die vorhandenen Energieeffi­zienzpotenziale nutzt und die Möglichkeiten der Wasserkraft und weiterer erneuerbarer Energien ausschöpfen will. ­Wichtig scheint mir, zur Kenntnis zu nehmen, dass die von den Gegnern bereits jetzt angeführten Kosten­erhöhungen nicht Bestandteil des ersten Massnahmen­pakets und darüber hinaus rein spekulativ sind. Einzig die Netz­abgabe zur Einspeise- oder Ein­malver­gütung soll von heute 1.5 Rappen auf 2.3 Rappen pro Kilowattstunde angehoben werden – zugunsten der erneuerbaren Stromerzeugung. Das heisst, für einen durchschnittlichen Haushalt sind das lediglich rund 40 Franken höhere Strom­kosten pro Jahr. Erst nachdem die Wirksamkeit dieses ersten Massnahmenpakets analysiert worden ist, will der Bundesrat ab 2021 in einer zweiten Etappe das bestehende Fördersystem sukzessive durch ein Lenkungssystem ablösen.

SIA: Was würde sich bei Annahme der Vorlage an der Art und Weise, wie wir zukünftig Häuser bauen, konkret ändern?
Adrian Altenburger: Die Energiestrategie schafft die Rahmenbedingungen, um die technologische Entwicklung hin zu einer Dekarboni­sierung des Gebäudeparks voranzutreiben. Das heisst, dass wir zukünftig keine fossilen Energieträger im Gebäude mehr einsetzen sollten. Das Ziel ist CO2-Neutralität im Gebäude. Werden die bereits heute langfristig attraktiven er­neuerbaren Energiesysteme noch verbessert und in grosser Stückzahl eingesetzt, so werden sie zunehmend auch ökonomisch wettbewerbsfähig. Weit wichtiger sind dann die konkreten Vorgaben der Kantone, die für den Gebäudebereich zuständig sind. Sie müssen bis 2018 – auf Basis der bestehenden Mustervorschriften der Kan­tone (MuKEn 2014) – den Planern konkrete Vorgaben machen. Wichtig scheint mir auch die schon lang anstehende Strommarktliberalisierung, die dynamischere Preisbildungen zulässt. Zukünftig werden wir vermehrt Kurzzeit­speicher in den Gebäuden haben, die den Strom beispielsweise dann zur Verfügung stellen, wenn die Sonne nicht scheint. Dadurch werden wir zumindest kurzfristig mit wenigen zentral situierten Grosskraftwerken als «Backup-Systemen» auskommen.

SIA: Apropos Strommarktliberalisierung: Bringt diese nicht die Ener­giekonzerne, die mit dem Preiszerfall auf dem Strommarkt kämpfen, noch weiter unter Druck?
Adrian Altenburger: Das ist richtig. Ich behaupte auch, der Strom wird mit den erneuerbaren Energien mittel­fristig nicht teurer, denn das Teure ist ja zukünftig nicht mehr der Rohstoff – die Sonne scheint kostenlos –, sondern die benötigte Infrastruktur für die Erzeugung und Weiterleitung. Deshalb sind auch Speichersysteme in den dezentralen Situierungen sehr sinnvoll, und die kapitalintensiven Redundanzen werden minimal gehalten. Um unseren Strombedarf zu decken, brauchen wir natürlich auch zukünftig die Wasserkraft, die unabhängig ist von tageszeit­lichen Schwankungen. Von mir aus können wir zur Deckung der Bedarfsspitzen – aber nur hier – auch zukünftig kurzfristig auf wenige hocheffiziente, fossile Kraftwerke zurückgreifen. Der fossile Energieträger ist nicht nur schlecht. Er hat einfach das Problem der Schadstoffe. Zur Spitzendeckung sollten wir ihn aber nicht ausser Acht lassen. Wir sollten die Energiediskus­sion nicht ideologisch führen, sondern die einzelnen Energie­träger intelligent einsetzen.

SIA: Das neue Energiegesetz sieht den «erweiterten Eigenverbrauch» vor. Was ist das genau?
Adrian Altenburger: Der Eigenverbrauch sieht vor, dass der lokal erzeugte Strom, wenn möglich, direkt selber verbraucht oder zum Beispiel in einem lokalen Speicher, etwa einer Batterie, zwischengelagert wird. Das kann insbesondere bei einer Strommarkt­­liberalisierung mit dynamischen Tarifen auch ökonomisch interessant sein. Es stellt zudem sicher, dass das öffentliche Netz bei einem starken Ausbau der dezen­tralen und stochastischen, das heisst wetterabhängigen Eigenstromerzeugung mit Photovoltaik (PV) nicht unnötig belastet und die Netzfrequenz stabil gehalten wird. Die Verbreitung von PV-Anlagen und Batteriespeichern, unter anderem für die Elektro­mobilität, wird in den nächsten Dekaden sicherlich stark zunehmen. Und nebst dem unmittel­baren Eigenverbrauch werden auch erweiterte Systeme in Areal- oder Quartierverbünden sowie Contracting-Lösungen an Attraktivität gewinnen können.

SIA: Also werden wir zukünftig insgesamt eine dezentralere Stromversorgung haben, sprich: weniger grosse und mehr kleine Anlagen zur Stromerzeugung?
Adrian Altenburger: Ja, für die Stromerzeugung stimmt das Bild einer hybriden Situierung. Das Stromnetz braucht es natürlich flächendeckend. Und das ist wichtig, denn Gebäude müssen zukünftig nicht zwangsläufig autark sein. Das ist auch ökonomisch nicht immer sinnvoll. Sie brauchen einen Anschluss an das Stromnetz, an das auch die Kraftwerke angeschlossen sind. In der Summe sollten dann in diesem Netz möglichst keine Überkapazitäten produziert werden. Wichtig ist der richtige Mix zwischen dezentralen Kleinanlagen und grossen zentralen Anlagen, wie den Wasserkraftwerken. Lang­fristig wird auch die Wasserkraft wieder rentabel sein.

SIA: Mit Annahme der Vorlage am 21. Mai 2017 wird die erneuerbare Energie zum nationalen Interesse erklärt. Ist unsere intakte Landschaft nun durch eine Flut von Anlagen zur Energieerzeugung gefährdet?
Adrian Altenburger: Nein, das wäre ein falsches Bild. Den Grossteil der erneuer­baren Energie werden wir auf dem Grundstück generieren, zum Beispiel durch Erdwärmenutzung mittels Wärmepumpen, oder auf dem Gebäude, mit integrierten Photovoltaikanlagen auf Dächern und in Fassaden. Daneben soll die Wasserkraft moderat ausgebaut werden und langfristig einen deutlich grösseren Anteil an der Stromversorgung haben. Eine Verlagerung hin zu den erneuer­baren Energieträgern wird also weniger die Landschaft als die Gebäude – und somit allenfalls den Denkmalschutz – fordern. Im Vordergrund steht hier die baukulturell intelligente und technisch adäquate Integration von Photovoltaikanlagen.

SIA: Unsere Städte und unsere Landschaften werden aber in jedem Fall zukünftig anders aussehen, oder nicht?
Adrian Altenburger: Es kann sein, dass es zu­künftig normal ist, dass wir in jeder Gemeinde neben dem Fussballfeld noch ein ebenso grosses Photovoltaikfeld haben. Vielleicht befindet sich das aber auch auf einem Einkaufs­zentrum. Das hängt von den Bauzonen und dem Willen der einzelnen Gemeinden ab. Letztlich stellt sich die Frage: Wo fängt für die Leute die «wertvolle Landschaft» an, die es zu schützen gilt? Natürlich müssen wir in der Naherholungszone sensibler vorgehen als im Industriegebiet. Man kann immer darüber streiten, was «schön» ist.

SIA: Das neue Energiegesetz belohnt Investitionen in Effizienzmassnahmen. Kritiker werfen den Befürwortern vor, mit der Vor­lage ein «Subventionsmonster» zu erschaffen.
Adrian Altenburger: Die Energiestrategie ist nicht wie die Landwirtschaft auf langfristige Subvention angelegt. Die vorgesehenen Subventionen werden daher ja auch ganz bewusst zeitlich befristet. Wenn sich Lösungen durchsetzen, braucht es keine Subventionen mehr. Das erste Massnahmenpaket zielt, wie bereits erwähnt, auf eine moderate und zeitlich beschränkte Erhöhung der Netzzuschläge ab. Das wie bisher unter anderem aus den CO2-Abgaben finanzierte Gebäudeprogramm unterstützt neu auch Gesamtsanie­rungen – und somit gesamtheit­liche Konzepte und nicht nur Dämmmassnahmen. Mit dem in der Strategie vorgesehenen Lenkungssystem hat das von den Gegnern bemühte «Subventionsmonster» eine absehbar geringe, relativ kurzfristige Marktwirkung. Eine Unternehmensstrategie ­ da­rauf aufzubauen wäre ohnehin nicht klug. Das Gebäudeprogramm ist somit kein nachhaltiges ­Argument – weder gegen das erste Massnahmenpaket noch gegen die Energiestrategie als Ganzes.

SIA: Ab 2035 hätte das nun zur Ab­stimmung stehende Fördersystem durch ein Lenkungssystem ab­gelöst werden sollen: das Klima- und Energielenkungssystem (KELS). Der Nationalrat hat dieses nun kürzlich bachab geschickt.
Adrian Altenburger: Dass die aktuelle Vorlage bezüglich des künftigen Lenkungssystems im Parlament vorerst abgelehnt wurde, heisst nicht, dass dieses System zum proklamierten Zeitpunkt nicht kommt. Mit der hoffentlich positiven Abstimmung vom 21. Mai wird vielmehr eine erste klare energiepolitische Haltung der Bevölkerung manifestiert und damit die Voraussetzung für die weitere Bearbeitung dieser Folgethematik geschaffen. Erst per 2035 soll das Lenkungssystem gültig sein, bis dahin wird noch einiges passieren. Im Übrigen gibt es bereits heute Lenkungsabgaben, die nicht grundsätzlich infrage gestellt werden: beispielsweise die CO2-Abgabe oder die Aufschläge auf den Benzinpreis. Die Lenkungssysteme sind uns also nicht fremd. Dass mit dem ersten Massnahmenpaket die langfristigen Ziele nicht erreicht werden, ist klar – und etwas anderes wurde auch nie behauptet. Ich bin überzeugt, dass wir in einigen Jahrzehnten ungläubig auf das «Karbonjahrhundert» zurückblicken und uns fragen werden, weshalb wir eigentlich nicht schon früher darauf kamen, die wertvollen fossilen Energie­träger intelligenter einzu­setzen. Alles braucht seine Zeit.

SIA: Was passiert, wenn die Stimm­bürger die Vorlage ablehnen?
Adrian Altenburger: Passieren wird nicht un­mittelbar etwas. Aber wir würden wertvolle Zeit verlieren und unse­rem eigenen Anspruch, ein Land mit Innovationskraft und eigenverantwortlichem Handeln zu sein, nicht gerecht werden. Und wenn man dann später mit dem Rücken zur Wand steht, sich also die klimatischen Verhältnisse drastisch verschlechtern, kommen sicher keine besseren Lösungen zustande. Für mich persönlich wäre es frustrierend, mit ansehen zu müssen, wie wir auf mehreren Ebenen den Anschluss verpassen – oder eben die Vorbildfunktion leichtfertig abgeben. Im Wissen darum, dass wir kein Energieproblem haben – es ist genug Energie da –, sondern ein «toxisches Stoffflussproblem» – es entstehen Schad­stoffe bei der Nutzung fossiler oder nuklearer Energieträger –, bin ich aber überzeugt: Die Dekarbonisierung und die Substitution der nuklearen Stromerzeugung werden früher oder später global zu einer Selbstverständlichkeit. Und ich wäre froh, wenn wir hier zu den Vorreitern und nicht zu den Nachahmern gehörten.
 

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