Hoff­nung aus dem Dun­kel

Eine Tunnelbaustelle von 17 Kilometern geographischer und 12 Jahren zeitlicher Länge birgt neben Risiken auch Nebenwirkungen. Keineswegs nur negative. Ein Besuch in Göschenen und Airolo lässt erahnen, was die Tunnelmünder versprechen.

Publikationsdatum
24-03-2022

Ein gewaltiger Granitsockel steht inmitten des Parkplatzes neben dem Bahnhof von Airolo. Er fasst ein Bronzerelief, das fünf Männer zeigt. Schwere Stiefel und ein grosser Hammer zeichnen sie als Bauarbeiter aus, die tief in die Gesichter hängenden Hüte und Kapuzen geben das Dunkel der Tunnelbaustelle wieder, muskulöse nackte Oberkörper erzählen von der Arbeit. Hier ist die Last aber nicht der aus dem Berg gehauene Stein. Zwei der Männer tragen einen Toten, die beiden anderen begleiten sie mit Öl­lampen, die an antike Katakomben erinnern.

So werden die Arbeiter zu Märtyrern der neueren Zeit; ihre verschatteten und abgewandten Gesichter gleichwohl machen sie namenlos. «Le vittime del lavoro», die Opfer der Arbeit stellen sie dar, so liest man es am unteren Rand der Darstellung. Das aber erkennt man erst auf den zweiten Blick. Sehr viel prominenter ist in goldenen Grossbuchstaben der höhere Zweck ihres Leidens in den Steinsockel graviert: TRAFORO DEL GOTTARDO, 1872–1882.

Ausgeblichene Schindelfassaden

Zehn Jahre dauerten die Arbeiten am Eisenbahntunnel durch den Gotthardpass, der hier in Airolo den Berg verlässt. Den goldenen Lettern entsprechend brachte er Wohlstand. Am anderen Ende des Tunnels, in Göschenen, sprossen edle Herbergen aus dem Boden, «Bahnhof» und «Hotel de la Gare» kann man noch heute ausgewaschen auf der Putzfassade eines hoch über der damals neuen Haltestelle aufragenden Bauwerks lesen. Es ist nicht übertrieben, zu sagen, dass Göschenen überhaupt erst mit der Gotthard-Bahnstrecke zu einem nennenswerten Ort wurde. Hier stiegen die Reisenden aus und zur Erkundung der malerisch-schaurigen Schöllenenschlucht auf Kutschen um, und Dank der Arbeiter schoss die Einwohnerzahl von 350 auf 3000 hoch.

Der Bau des Auto­bahntunnels in den 1970er-Jahren, die viel früher im Berg verschwindende Gotthardbasisstrecke der Bahn und schliesslich die Tendenz, den kurzen Weg durch den Alpenkamm zugunsten sonnigerer Destinationen zu nutzen, all das hat Göschenen wieder das Schattendasein beschert, dem es topografisch ohnehin ausgeliefert ist. Im Februar treffen die ersten Sonnenstrahlen um viertel nach elf auf den blätternden Putz und die ausgebleichten Schindelfassaden der Hotels, die entlang der alten Passstrasse vor sich hin dümpeln, wenn sie nicht längst geschlossen sind.

Doch mit dem nun begonnenen Bau der zweiten Autobahntunnelröhre durch den Gotthard, der abermals etwa zehn Jahre dauern wird, kehrt die Hoffnung wieder. Mit der Baustelle nämlich kommt zweierlei aus dem Berg in die Orte an den Tunnelenden: Arbeiter, die nach einer Achtstundenschicht ein Mahl, ein Bett und vielleicht auch ein Bier brauchen, und zusammen mit ihnen das Gestein, das sie in der Tiefe aus dem Berg gesprengt und gefräst haben. Erstere sollen Göschenen wieder zum Leben erwecken, und letzteres soll Airolo verschönern.

Ein Haus in 21 Tagen

Doch die Geschichte soll sich nicht allzu direkt wiederholen: Den Arbeitern soll es besser gehen, und der Aufschwung soll nachhaltiger sein. Für die Unterkunft der Bergleute hatte das Bundesamt für Strassen Astra 2020 eigens einen Architektur- und Investorenwett­bewerb ausgeschrieben. Das Resultat erstellte der Wettbewerbsgewinner Swiss Property Ende 2021 am Dorf­rand von Göschenen: ein fünfstöckiges Holzgebäude in Modulbauweise. Dessen jeweils einen Raum umfassende Elemente fertigte der Holzbauer Blumer Lehmann komplett in der Ostschweiz vor, sodass man in Göschenen mit einer Bauzeit von nur 21 Tagen auskam. Die mit etwas Euphemismus als seriell zu bezeichnende Fassade vermag ihre Inspiration aus dem Baucontainer nicht ganz zu verbergen, auch wenn sie in ein Holzkleid gehüllt ist und die durchlaufenden Horizontalen der Verschattung in der Nachmittagssonne ein bisschen den Geist der hölzernen Davoser Moderne anklingen lassen. Wenn man aber bedenkt, dass die wahrscheinlichste Alternative Metallcontainer gewesen wären, muss man die architektonische Ambition durchaus anerkennen.

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Neben dem Gebäude, das nach Ende der Tunnelbaustelle komplett abgebaut werden kann, um den Modulen anderswo eine zweite Existenz zu schenken, entstehen gerade zwei weitere, ebenfalls mit Arbeiterzimmern und sogar im Minergie-P-Standard. Die sollen bestehen bleiben, und ihr Umbau zu Wohnungen oder in eine Jugendherberge ist schon im Plan vorgesehen. Beim Spaziergang durchs Dorf entlang der alten Hotels mit geschwungenen Balkongeländern, Täfer in der Wirtshausstube und filigran profilierten Kastenfenstern wird allerdings offenbar, dass Nachhaltigkeit und architektonische Qualität auch in einem umfassenderen Massstab hätten gedacht werden können. Fehlte das Minergie-Zertifikat oder einfach der Zugriff auf den Besitz, um aus den einstigen Herbergen neue werden zu lassen?

Slow Food neben der Magerwiese

Airolo erinnert an einen Jazzklassiker, es liegt «on the sunny side of the street». Zwar ist hier auch nicht sehr viel mehr los als in Göschenen, dafür scheint die Sonne deutlich länger, man spricht Italienisch, eine Osteria bereitet ambitioniertes Slow Food zu und macht die Randlage zur automobilen Hochgeschwindigkeit so zum Programm. In den Ort am Süd­ende des Tunnels wandert das aus dem Berg gebrochene Gestein: Ein gutes Viertel dessen, was aus dem Berg gegraben wird, um den Tunnel zu bauen, soll diesen wie in einem Schildbürgerstreich noch verlängern. Die Autobahn wird, kaum dass sie den Tunnel verlassen hat, mit dem Aushub überschüttet. Während die Autofahrer also zukünftig noch einen Kilometer länger im Dunkeln sitzen, öffnet sich für den Ort damit ein Zugang zum Fluss Ticino, den die Autobahn derzeit abschneidet.

Illusionistische Zukunftsdarstellungen versprechen so etwas wie Ricola-­fähige Bergwiesen mit Seen mit tieftürkisblauem Wasser. Das mag allzu sehr Wunschbild sein, doch die Hoffnung des Orts auf einen landschaftlichen Gewinn durch die Natur aus zweiter Hand ist nachvollziehbar, zumal auch die Verkehrsführung vereinfacht werden und ein das Tal auf hohen Stützen S-förmig überquerendes Viadukt verschwinden soll.

In Göschenen wie in Airolo wird deutlich: In­frastrukturbau ist auch Architektur und Landschaftsgestaltung. Heutige Monumente entstehen vielleicht nicht mehr aus Bronze, sondern aus Holzbaumodulen und Magerwiesen.

Die ausführliche Version dieses Artikels ist erschienen in TEC21 9/2022.

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