Geo­tech­nik – ei­ne Quan­ti­té né­g­li­gea­b­le?

Zwei Fachtagungen zum Thema Geotechnik

Frappante Aussagen und teilweise ungenügende Fachkenntnisse bei den Anwendern: Geotechnik und Grundwasser sind beim Bauen keine Nebenschauplätze.

Publikationsdatum
18-12-2014
Revision
25-08-2015

Im vergangenen November fanden zwei Geotechniktagungen statt: eine zu «Baugrunduntersuchung und Baugrundwerten» an der Hochschule für Technik Rapperswil HSR, eine zu «Geotechnik und Grundwasser» in Bern, veranstaltet vom Schweizerischen Verband der Strassen- und Verkehrsfachleute VSS und Geotechnik Schweiz GS. Letztere überzeugte mit einer Mischung  aus der Vermittlung von Basiswissen und Erfahrungen. Aber auch an der HSR Rapperswil gab es Erstaunliches zu hören.

«Ein Grossteil der Pfählungen ist überflüssig»

Diese provokative Aussage an der Tagung in Rapperswil stammte von Thomas Lüthi (Bauingenieur, Synaxis AG). Im Rahmen einer grösseren Überbauung im Raum Zürich untersuchte man das Verhältnis zwischen vorausgesagten und gemessenen Setzungen auf eher schlechtem Baugrund (siltig-sandige, z. T. tonige Seeablagerungen mit einer Mächtigkeit von 15 bis 20 m). Das Verhältnis von prognostizierten zu gemessenen Setzungen (und damit vom effektiven zum angenommenem ME-Wert) betrug 5–10, im Mittel betrug das Verhältnis 6. Die gemessenen 5–7 mm Setzungen standen in einem grossen Widerspruch zu den vorausgesagten 40–50 mm.

Die Angaben aus den verschiedenen geologischen Gutachten waren also mit einer erheblichen Sicherheit behaftet. Diese übertrieben konservativen Setzungsprognosen führen oft zu Pfahlfundationen. Die Folgerung, dass die meisten in der Schweiz ausgeführten Pfählungen überflüssig, ja gar kontraproduktiv seien, da die Bodenplatte in der Folge meist auch falsch dimensioniert wird, kann also nicht von der Hand ge­wiesen werden. Das Missverhältnis bei den Setzungen ist vor allem bei schlechten Baugrundverhältnissen gross, was die Diskrepanz von begründeten zu eher unbegründeten Pfahlfundationen noch verstärkt.

Hier drängen sich zwei Fragen auf:
- Wann nehmen sich Lehre, Forschung und Praxis dieser seit Jahrzehnten bekannten Problematik an 
- Wie gross sind die Kosten, die durch unnötige Pfahlfundationen entstehen, weil alle Beteiligten die gesamte Unsicherheit bei der Festlegung von Baugrundmodellen und Rechenwerten unglaubwürdig hoch ansetzen und sich diesen bekannten Erkenntnissen (bewusst oder unbewusst) verschliessen 

Den Geologen fragen …

Die anschliessenden Diskussionen zeigten, dass die Nahtstelle, und damit die Aufgabenteilung zwischen Geologe und Geotechniker, Abgrenzungsprobleme erzeugen kann. Die Fest­legung von Baugrundkennwerten erfolgt im Übergang vom Geologen über den Geotechniker zum Bauingenieur: Man kommt von der Beschreibung über die Interpretation und Modellierung zur Dimensionierung.

Den Geologen obliegt vor allem die Beschreibung des Baugrunds, also dessen Entstehung, Aufbau, Dichte, Besonderheiten usw. Die Geotechniker und Bauingenieure sind zwar verantwortlich für die Dimensionierung, sollten aber vom Geologen nicht nur eine Tabelle von  Phi-, c- und ME-Werten erwarten, sondern auch der Modellierung des Baugrunds und der Interaktion zwischen Baugrund und Bauwerk ihre Aufmerksamkeit widmen. Diese Nahtstelle ist entscheidend – ist der Geologe zu vorsichtig, resultieren Überdimensionierungen.

 … oder den Geotechniker 

Wenn der Geotechniker aufgrund seiner Erfahrungen an vergleichbaren Böden bessere Bodenkennwerte annehmen möchte, als der Geologe vorgibt, kommt schnell eine Diskussion auf über Zuständigkeit und Verantwortung, häufig mit dem Resultat, dass zur sicheren Seite tendiert wird und unwirtschaftliche Lösungen entstehen. Einerseits sollte der Geologe auf einfache Angabe von zulässigen Belastungen verzichten, andererseits sollten diese auch nicht erwartet werden. Sinnvoll wäre es, so der Vorschlag von Lüthi, wenn alle Beteiligten – Geologe, Tragwerksplaner und Geotechniker – gemeinsam die für ein gewähltes Tragsystem anzunehmenden Bodenkennwerte festlegen. Dieses Vorgehen bedingt aber auch eine Klärung der Verantwortung und Honorierung. Hier sind neben den Beteiligten auch die Auftraggeber gefordert.

Rechnen oder modellieren 

Die Geotechniker sind bei der ­Dimensionierung gefragt: Hansruedi Schneider (Bauingenieur, HSR) zeigte in seinem Referat, dass im Lauf der letzten Jahrzehnte ein sukzessiver Übergang von der erfahrungsbasierten Geotechnik zu immer mehr mathematischem Erfassen und Behandeln des Baugrunds mit numerischen Modellen stattfand. Vor 30 Jahren diskutierte man über mögliche Berechnungsverfahren, die allerdings eine grössere Rechenanlage benötigt hätten. Heute beschäftigt man sich vor allem mit dem Input zu FE-Modellen, die problemlos auf jedem PC durchgerechnet werden können.

Dieses nicht zu verachtende grosse Potenzial verführt leider vor allem junge Bauingenieure dazu, sich nur noch mit der Berechnung zu befassen. Das Re­sultat ist häufig ein Rechenergebnis mit fünf Stellen nach dem Komma anstelle von Überlegungen zur Modellbildung, zum Ansatz der Baugrundparameter und zu Risiken und Grenzen einer Berechnung.

«Die Norm ersetzt fehlendes Grundlagenwissen nicht»

Einen ganzen Tag lang widmete sich die Tagung in Bern den Problemen, die das Grundwasser im Baugrund mit sich bringt, wie man diese meistert – oder was passiert, wenn man das Wasser ungenügend oder falsch in Rechnung setzt. Ist diese Fokussierung auf das Grundwasser aber auch nötig? Zwei Punkte unterstrichen diese Notwendigkeit:
- Aufgrund von Unklarheiten, Fehlern in der Norm und fehlendem Basiswissen bei den Anwendern wurden die Revisionen der Normen SIA 261 und 267 notwendig.
- Wenn in einer Baugrube, an einer Böschung oder bei einem Damm Schäden entstehen, ist mit grosser Wahrscheinlichkeit das Grundwasser involviert.

Hansjürg Gysi (Bauingenieur, Gysi Leoni Mader) gab eine kurze, aber intensive Einführung zum Thema «Grundwasser in der Bodenmechanik». Mit vielen Formeln, die zwar in ihrer Menge etwas abschreckten, aber mit den erklärenden Zeich­nungen hervorragend aufbereitet waren, zeigte er, was Sache wäre – wenn man sie denn richtig berücksichtigen würde. Offenbar ist es notwendig, erfahrenen Geotechnikern an einer Tagung Grundlagen zu vermitteln oder diese zumindest aufzufrischen.

Im anschliessenden Vortrag zeigte Vincent Labiouse (Bauinge­nieur, EPFL), weshalb die Normen SIA 261 und 267 einer Revision unterzogen wurden:
- Falsche oder ungenaue Übersetzungen ins Französische – unter anderem wurde «hydraulisch» mit «hydrostatique» übersetzt.
- Einzelne Zeichnungen in der Norm führten bei einer unreflektierten Anwendung zu Dimensionierungen, die teilweise auf der unsicheren Seite lagen. Die Norm wurde offenbar öfter von Ingenieuren angewendet, die von der Problematik und der sachgerechten Modellierung und Beherrschung von hydraulischen Problemen im Baugrund zu wenig Fachkenntnisse hatten.

Die Norm wurde daher von Ungenauigkeiten befreit und so ergänzt, dass sie sich auch für auf dem Gebiet des Grundwassers nicht routinierte Anwender als tauglich erweist. Ob in einer Norm sämtliche möglichen Anwendungen erfasst sein müssen, ist allerdings zu hinterfragen, und ob damit aus einer Norm ein Lehrbuch entsteht (was nicht deren Sinn ist), sei dahingestellt.

Der Schlusssatz im Vortrag von Labiouse hiess denn auch: «Normen allein lösen das Problem von fehlendem Verständnis der Materie und der ­Modellbildung bei hydraulischen Problemen nicht» – eine unmiss­verständliche Aufforderung an die Praxis, aber auch an die Schulen.

Zuverlässiges Modell dank umfassender Sondierung

Ein weiterer Vortrag behandelte die Stabilisierung einer Rutschung in auf der SBB-Neubaustrecke Mattstetten–Rothrist (Stefan Irngartinger, Bauingenieur, B + S AG). Dabei schnitt man bei Wynau BE ein seit Langem bekanntes Rutschgebiet an. Erst mit einer ergänzenden Sondierkampagne erkannten die Planer, dass diese Rutschung auf bis zu 30 m artesisch gespanntes Grundwasser zurückzuführen war.

Der tiefgreifenden Rutschung konnte man nur wirksam begegnen, indem man die treibende Kraft, das Grundwasser, reduzierte. Erst mit den zusätzlichen Sondierungen konnte man auch ein zuverlässiges geo­logisch-hydrogeologisches Modell bilden.

Was fehlte 

Vor allem an der Tagung der HSR wurden viele Basiskenntisse ver­mittelt – etwas, das eigentlich zur Ausbildung gehört. Das Weitergeben von Erkenntnissen aus Fehlern hingegen ist im gesamten ­Bau­ingenieurwesen leider nur sehr rudimentär ver­breitet. Vorträge mit diesem Ansatz wären – vor allem im Bereich der erfahrungsbasierten Geotechnik – von grosser Wichtigkeit. Man lernt zwar aus den eigenen Fehlern am meisten (wenn man sie denn erkennt), aber die immerhin zweit­beste Methode wäre das Weiter­geben von Erfahrungen (auch von negativen), nicht nur innerhalb des Büros, sondern auch im Kollegenkreis. 

 
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