Geometrische Strenge und Kreativität
Editorial von Tracés 5-6/2015
Der Einfluss der EDV auf die Berufspraxis von Architekten und Ingenieuren ist wohl unbestritten. Die genauen Auswirkungen dieser Veränderung sind allerdings schwieriger abzuschätzen. Er äussert sich jedoch in der heutigen Architekturszene durch zwei Phänomene, die zunächst einmal völlig gegensätzlich sind: auf der einen Seite die Allgegenwärtigkeit von geraden Linien und einfachen geometrischen Formen, auf der anderen die Möglichkeit, immer mehr freie Formen zu erfinden. Dieser Antagonismus spricht Bände über eine Zeit, in der wir uns im Spannungsfeld zwischen Rationalisierungsanforderungen, die tendenziell zu einer Uniformisierung in der Architektur führen, und dem Bedürfnis befinden, dieser Gleichmacherei spektakuläre Realisierungen entgegen zu halten.
Dieser vermeintliche Gegensatz zwischen Rationalität und Kreativität, der oft als Zerrbild für das Verhältnis von Ingenieuren und Architekten herhalten muss, wird auf das Trefflichste durch die gemeinsame Realisierung der Architekten der Agentur Moatti-Rivière und der Ingenieure vom Büro RFR ad absurdum geführt, die für das Konzept und die anschliessende Ausführung der doppelt gekrümmten Glasfassaden von drei neuen Pavillons im ersten Stockwerk des Eiffelturms verantwortlich zeichnen. Das Ergebnis ist nicht nur von der Ästhetik her gelungen; man beachte insbesondere die originelle Vorgehensweise bei der Konstruktion der Verglasungen, vor allem aber die Rolle, die die Geometrie bei der Entwicklung der ausgeführten Lösung gespielt hat.
Die Ingenieure und Architekten haben nämlich eine grundlegende geometrische Eigenschaft der Hauptkrümmungslinien der Oberflächen bearbeitet, bevor sie sich für eine endgültige Form der Fassaden entschieden und die dementsprechende Anordnung der einzelnen Scheiben definierten. Dies gelang ihnen mit einer Software zum Zeichnen dieser Linien für zahlreiche mögliche Fassadenflächen. Anschliessend wurde eine ausgewählt, die von der Form her den besten Kompromiss zwischen den funktionalen Anforderungen an das Projekt und den Sachzwängen der Realisierung darstellte. Ein weiterer Vorteil: Die Unregelmässigkeiten, die die Unterteilung in einzelne Scheiben bei einer Verglasung zwangsweise mit sich bringt, wurden geschickt zur Betonung bestimmter architektonischer Intentionen im Hinblick auf die Integration der drei Pavillons in den Turm genutzt.
Dies zeigt, dass der Austausch zwischen beiden Disziplinen nicht nur möglich, sondern auch fruchtbar sein kann, wenn beide Partner gewillt sind, einen Teil ihrer Arbeit zu hinterfragen. Zudem hat sich gezeigt, dass die EDV - immer vorausgesetzt, man nimmt sich die Zeit für eine sinnvolle Auswertung ihrer Ergebnisse - die Kreativität des Architekten anregen und bereichern kann.
Doch zurück zum Eiffelturm: Der Versuch zur attraktiveren Gestaltung des 1. Stockwerks hat von diesem Ansatz eindeutig profitiert. Und die Befürchtungen des Künstlerkollektivs, das zwei Jahre vor dem Bau des Eiffelturms behauptete, dieser Turm würde Paris zweifelsohne zur Schande gereichen, und sich zudem besorgt zeigte, dass sich der verhasste Schatten dieses hässlichen vernieteten Blechturms ausbreitete wie verschüttete Tinte, scheinen endgültig der Vergangenheit anzugehören. 1
Anmerkungen
- Zu diesem Thema siehe Protestbrief «Les artistes contre la tour Eiffel» sowie «Réponse de Gustave Eiffel à la protestation des artistes du 14 février 1887» (Künstler gegen den Eiffelturm" und Antwort Gustave Eiffels auf den Protest der Künstler vom 14. Februar 1887")