Ernst & Sohn In­ge­nieur­bau­preis 2022 geht in die Schweiz

Was für eine Ehre! Es sind Schweizer Ingenieure, die den Ernst & Sohn Ingenieurbaupreis 2022 gewonnen haben – den Preis des gleichnamigen Verlags für Ingenieurprojekte in bzw. aus deutschsprachigen Ländern. Die «Erneuerung Saaneviadukt und Doppelspurausbau, Gümmenen» von Fürst Laffranchi Bauingenieure ging als Sieger aus 32 Wettbewerbseingaben hervor.

Publikationsdatum
08-02-2022

Der um 1901 erbaute Saaneviadukt mit einer Gesamtlänge von 399 m, bestehend aus einer Flussüberquerung, den beiden anschliessenden Natursteinviadukten und dem Damm, ist einer der bedeutendsten Eisenbahnviadukte der Schweiz. Unter Beachtung seines Denkmalwerts und mit der Vorgabe, die Bausubstanz möglichst ungeschmälert zu erhalten, wurde das Ensemble erneuert, die Linienführung auf eine höhere Ausbaugeschwindigkeit ausgelegt und die Strecke auf Doppelspur ausgebaut. Dabei wurden die Natursteinviadukte instand gesetzt, die Schottertröge auf den Viadukten erneuert sowie das historische und filigrane Eisenfachwerk der Hauptöffnung durch eine moderne Stahl-Beton-Verbundbrücke ersetzt.

Ein sinnhaftes Projekt

Das Siegerprojekt ist eine Botschaft an die Gesellschaft und die Bauherrschaften. Daniel Meyer – Bauingenieur, Inhaber von Dr. Lüchinger + Meyer Bauingenieure, Vizepräsident des SIA und Jurymitglied des Ernst & Sohn Ingenieurbaupreises – verdeutlicht: «Um Wettbewerbseingaben nahezu aller Tätigkeitsbereiche des Bauingenieurwesens miteinander vergleichen zu können, muss auch eine Haltung, eine Grundanschauung, identifiziert werden, die den einzelnen Projekten eigen ist.» So wurden die eingegangenen Wasserbauten, Hebewerke, Hafen- oder Brückenbauten und Hochbauten nach den vorbestimmten Kriterien beurteilt. Gewürdigt wurden herausragende Leistungen im konstruktiven Ingenieurbau.

Funktionale, technische, wirtschaftliche und gestalterische Gesichtspunkte standen im Fokus, wobei eine besondere Ingenieurleistung erkennbar sein musste. Diese wurden von der hochkarätigen Jury anhand der Kriterien Konstruktion, Innovation, Interdisziplinarität, Ästhetik und Nachhaltigkeit während intensiven und gut geleiteten Diskussionen bewertet. «Mit diesen Kriterien liessen sich die vielfältigen Projekteingaben auf einer Ebene miteinander vergleichen», erläutert Jurymitglied Prof. Dr.-Ing. Lucio Blandini, Leiter des Instituts für Leichtbau Entwerfen und Konstruieren ILEK an der Universität Stuttgart und Vorstand der Werner Sobek AG, «und schliesslich wertend ins Verhältnis zueinander setzen.» So ergab sich schliesslich eine ganzheitliche Beurteilung, die auch die Sinnhaftigkeit des Projekts für die Gesellschaft verdeutlicht.

So reagiere die Erneuerung des Saaneviadukts in vorbildlicher Weise auf aktuelle Anforderungen hinsichtlich Nachhaltigkeit, Ressourcenerhaltung und -schonung. Der zweigleisige Ausbau fördere die Mobilitätswende. Der Viadukt erhalte dadurch gesellschaftliche Relevanz und leiste einen zeitgenössischen Beitrag zur Baukultur. So steht es im Bericht der Jury, die vom rücksichtsvoll kreativen und subtilen Umgang mit dem denkmalgeschützten Bestandsbauwerk überzeugt war. Für Fürst Laffranchi Bauingenieure aus Aarwangen ist dieser Preis – die 17. Ausgabe der Ernst & Sohn Ingenieurbaupreise – die Krönung der sensiblen Arbeit, mit der sie konsequent und von Beginn weg die Projektierung dieses Bauwerks angingen.

Besonders lobenswert ist, dass die Jury die Subtilität des Projekts in der üblich kurzen Jurierungsphase erkannte. Das ist nicht selbstverständlich und braucht eine gewisse Anstrengung. Denn die Kraft des Bauwerks ist nicht auf Anhieb erkennbar wie bei anderen Projekten, die optisch durchaus mehr Aufsehen erregen. Die minimale Verstärkung für das Auffangen der fast doppelt so grossen Last ist nur verständlich, wenn man die ausführlichen Recherchen erkennt und das relativ einfache statische Modell dazu versteht.

Auf Grundlage eingehender rechnerischer und materieller Analysen des Bestands gelang eine signifikante Aufwertung des Bauwerks. Die Abtragung der deutlich grösseren Einwirkungen aus dem Bahnbetrieb sowie die Berechnung der Temperaturverformungen des gesamten Viadukts erforderten ein vertieftes Verständnis des Tragverhaltens des Natursteinviadukts und sein Zusammenwirken mit den neuen Elementen. Dieser facettenreiche, zukunftsweisende und innovative Umgang mit dem baukulturellen Erbe ist beeindruckend und überzeugt.

Die lokalen Erweiterungen durch eine Verbundkonstruktion aus Stahlbeton mit vorgesetztem Mauerwerk füge sich respektvoll in die ursprüngliche Gestaltungsidee ein, und der Ersatz der alten Stahlfachwerkbrücke über die Saane sei eine neuzeitlich interpretierte und dennoch klassische Lösung, so der Jurybericht. Der Gestaltung des Fachwerks lag die Idee zugrunde, in der Anordnung der Fachwerkmaschen den statischen Kräfteverlauf ablesbar zu machen und dennoch die Fachwerkausfachung möglichst transparent zu halten. Diese Konfiguration stelle eine raffinierte und innovative Antwort auf die hohen gestalterischen Ansprüche an das denkmalgeschützte Bauwerk dar.

Sämtliche neuen Bauteile ordnen sich dem gestalterischen Ziel unter, das Bauwerk in seiner Einfachheit und Klarheit nicht zu schwächen und die neuen Elemente zurückhaltend und im Einklang mit dem historischen Bestand zu gestalten. Diesem Prinzip unterlag auch die Wahl der Baustoffe, die durch die bereits bestehende Bausubstanz vorgegeben wurde. Durch den maximalen Erhalt der Originalsubstanz leistet das Projekt einen wesentlichen Beitrag zur Nachhaltigkeit und zum Denkmalschutz, ohne dass seine Bedeutung als Baudenkmal geschmälert wurde.

Ein weiteres Schweizer Projekt auf dem Podest

Neben dem Siegerprojekt zeichnete die Jury auch zwei als gleichwertig angesehene Bauten aus: das Projekt Djamaâ el Djazaïr (Grosse Moschee) von Algier und das Musée Atelier Audemars Piguet in Le Brassus VD.

Das monumentale Sakralbauwerk Djamaâ el Djazaïr, das ein neues nationales Wahrzeichen sein soll, überzeugte die Jury durch die interdisziplinäre Zusammenarbeit der internationalen Projektbeteiligten (Tragkonstruktion: Krebs + Kiefer, Karlsruhe). Das Minarett mit einem Museum, Forschungseinrichtungen und einer Besucherplattform ist das weltweit höchste und gleichzeitig mit 265 m auch das höchste Gebäude Afrikas. Der gesamte Komplex beherbergt zudem ein Kongresszentrum, eine Bibliothek und eine Universität.

Da das Projekt in einer seismisch stark gefährdeten Zone liegt, musste das Planerteam eine Vielzahl technischer Herausforderungen wie die Beherrschung der hohen Erdbebeneinwirkungen angehen. Es löste sie, indem erstmals in Algerien eine seismische Isolierung eines Raums umgesetzt wurde. Eine Kombination von Gleitpendellagern und viskosen Dämpfern garantiert für den bis zu 32'000 Gläubige fassenden Gebetssaal eine hohe Erdbebensicherheit.

Die Jury ist der Meinung, den Projektbeteiligten sei es gelungen, die hohen ästhetischen Ansprüche mit den technischen Anforderungen in Bezug auf anzusetzende Belastungen und Dauerhaftigkeit elegant in Einklang zu bringen. Da ausserdem mehrere für Algerien innovative Bauformen gewählt wurden, fand hier erstmalig offiziell die europäische Normenfamilie der EN Anwendung.

Das Musée Atelier Audemars Piguet (Tragkonstruktion: GVH, St-Blaise) hingegen überzeugte die Jury insbesondere mit Innovation im konstruktiven Glasbau sowie der hohen Gestaltungsqualität und deren Umsetzung im Detail. Der Neubau eines Uhrenmuseums mit Schauwerkstatt mit spiralförmigem Grundriss bildet den Kern der Aufgabenstellung. Es ist nicht nur ein Eyecatcher mit vermarktbarer Anziehungskraft, sondern auch eine schlüssige ingenieurtechnische Planung und Realisierung.

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Die raumhohen Verbundgläser übernehmen den kompletten vertikalen sowie horizontalen Lastabtrag und sind zugleich Teil der thermischen Hülle. So fügt sich das transparente Bauwerk mit aussteifenden, gekrümmten Glaselementen und mit den begrünten Dachflächen ausgesprochen harmonisch in die umgebende Landschaft ein. Den Tragwerksplanerinnen und -planern sei es hervorragend und auf bautechnisch neuartige Weise gelungen, die tragende Struktur und raumbildende Fassade miteinander zu verschmelzen und so eine ästhetisch überzeugende Identität zu schaffen.

Kontroverse Diskussionen sind wichtig

Während der Jurierung blieben Diskussionen um kontroverse Ansichten nicht aus. «Dank dem offen und aufrichtig gehaltenen Austausch unter allen Jurymitgliedern kamen wir aber zur konvergierenden finalen Entscheidung», erläutert Lucio Blandini. Solche Diskurse bereichern die Juryarbeit und verfeinern die Argumentation in der Evaluation und Identifikation der besten Projekte. In diesem Sinn spiegelt der Ernst & Sohn Ingenieurbaupreis mit seiner Vielfalt an Projekteingaben nicht nur den vielschichtigen Ingenieurberuf und dessen hervorragende Leistungen wider, sondern zeigt auch auf, wie Wettbewerbe wichtige Werte ins öffentliche Bewusstsein rücken können.

Weitere Informationen: www.ingenieurbaupreis.de

 

Jury

Prof. Dr.-Ing. Jan Akkermann, Karlsruhe

Prof. Dr.-Ing. Lucio Blandini, Stuttgart

Prof. Dr.-Ing. Conrad Boley, München

Dipl. Bau-Ing. Daniel Meyer, Zürich

Dipl.-Ing. Sandra Niebling, Stuttgart

Dipl.-Ing. Oliver Zscherpe, Göppingen

Dr. Bernhard Hauke, Berlin

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