Er­folgs­re­zept für das kol­lek­ti­ve Woh­nen

Rezension «Social Loft» von Yves Dreier + Eik Frenzel

Die Genossenschaft als urbanes Lebensmodell – das 2019 fertig gestellte Écoquartier de la Jonction in Genf gibt Anlass, Voraussetzungen und Konzepte des sozial nachhaltigen Wohnens im europäischen Vergleich zu reflektieren.  

Publikationsdatum
29-11-2023

Die Lausanner Yves Dreier und Eik Frenzel sind die Architekten des 2019 fertig gestellten Écoquartier de la Jonction in Genf. Dieser hochverdichtete, neue Stadtbaustein nahe dem Rhone-Ufer besteht aus 330 Wohnungen, verteilt auf drei Gebäude und unterschiedliche Eigentumsmodelle.

Die erfolgreiche Realisierung ihres Projekts nahmen die Erbauer zum Anlass, die damit verbundenen politischen und qualitativen Ziele in einem Buch zu dokumentieren, das den programmatischen Titel «Social Loft» trägt. Denn der ökologische Anspruch, den das Ensemble im Namen trägt, meint nicht nur Ökologie im gängigen Sinne, sondern darf umfassender verstanden werden im Sinne sozialer Nachhaltigkeit und Gemeinwohlorientierung. 

Empfehlungen, breit abgestützt

Die Projektdokumentation und der einleitende Essay der Herausgebenden wird von immerhin zwölf Gastbeiträgen begleitet, was den Anspruch eines vertieften, breit abgestützten Einstiegs ins Thema unterstreicht. Das ausgesprochen sorgfältig gestaltete Buch wird somit zum Manifest baupolitischer Anliegen, die man bislang weniger bei Architekturschaffenden erwartet, sondern in erster Linie für ureigene Claims progressiver Stadtplanender gehalten hatte: Gemeinwohlorientierte Stadt, bezahlbares Wohnen, Shared space, Raum für gesellschaftliche Diversität. Die Kompromisslosigkeit, mit der Dreyer und Frenzel wie auch ihre Co-Autor:innen diese Anliegen vertreten, erinnert an die Stimmung um 1970, als an Europas Architekturfakultäten die Parole umging: «Hört auf zu entwerfen, ändert lieber die Gesellschaft!»

Ganz so weit gehen Dreier und Frenzel nicht, jedoch giessen sie ihren Bauverständnis und die Erfahrungen aus der Entwicklungsphase des Écoquartiers in zwölf konkrete Regeln. Diese «vorausschauenden Werkzeuge» für eine Architektur, die auf sozialen Gewinn abzielt, heissen bei den beiden Architekten «Gebote» – und klingen auch so. Etwa Gebot 11: «Reserviere einen erheblichen Teil des Budgets für Elemente, die der partizipativen Planung unterliegen und deren Ergebnis nicht im Voraus bekannt ist.» Gebot Nr. 2 nimmt frontal das kreative Selbstverständnis der Entwerfenden ins Visier: «Betrachte den formalen Ausdruck als den unbedeutendsten Faktor beim Entwerfen einer an der Nutzung orientierten Architektur.»

Die Beiträge der Gastautorinnen und -autoren knüpfen an die Thesen der Herausgebenden an und vertiefen diese, etwa der Essay über architektonische Schwellenräume von Alexandre Aviolat, Lorraine Beaudoin und Christophe Joud. Gemeint sind damit Varianten für die Gestaltung der Übergangsbereiche zwischen (halb)öffentlich und privat, die an verschiedenen gebauten Beispielen erläutert werden. Jeder Zugewinn solcher Begegnungszonen stärkt nicht nur das Kollektiv, er ist zugleich die Voraussetzung, um die Raumansprüche der einzelnen Wohnung zu begrenzen. Man hat die Erfolgsbausteine für erfolgreiches kollektives Wohnen bisher selten so systematisch zusammengestellt gefunden.

Blick über die Grenze

Gemeinwohlorientierte Wohnformen haben zudem das Potenzial, positiv in den umgebenden öffentlichen Raum auszustrahlen, wie Sonia Curnier am Beispiel des Berliner Projekts «Metropolenhaus» illustriert. Überhaupt stärkt der Blick ins benachbarte Ausland die Aussagekraft des Werks: In einem Interview befragen Dreier und Frenzel die ehemalige Berliner Baudirektorin Regula Lüscher zu ihren wohnungspolitischen Erneuerungsbestrebungen in der deutschen Hauptstadt und ein dreiköpfiges Autorenkollektiv dokumentiert Gemeinschaftshäuser in Paris. Der langjährige Zürcher Genossenschafter Andreas Hofer, heute Direktor der IBA2027 in Stuttgart, erläutert, warum das Wirtschaftsmodell der Genossenschaften sozialer, langfristig aber auch ökonomisch tragfähiger ist als die Architekturproduktion des kapitalistischen Immobilienmarkts.

Ausgesprochen lesenswert ist zudem Claudia Thiesens Rückblick auf die Idee des Clusterwohnens. Thiesen gehörte 2008 beim Zürcher Genossenschaftsprojekt Kraftwerk 1 zu den Pionier:innen der Idee, räumliche Strukturen für ein kollektives Wohnen in Gross-Wohngemeinschaften vorzusehen. In ihrem Beitrag lässt sie die seitdem erfolgte vielfältige Adaption dieser Idee zwischen Zürich, München, Köln und Wien Revue passieren und reflektiert dabei auch Schwachpunkte und Irrwege dieses Modells.

Das letzte Drittel des 270 Seiten starken Buchs bilden Fotografien und Pläne – insbesondere Grundrisse der wichtigsten Wohnungs- und Clustertypen des Écoquartier de la Jonction. Eingeleitet wird dieser dokumentarische Teil von einem Fotoessay mit Impressionen der von den Bewohnenden schon in Besitz genommen Siedlung, betont prosaisch: Das auf eine freie Maschine wartende Wäschesäckli in der Waschküche, unaufgeräumte Kinderzimmer und Tretroller-Stolperfallen im Laubengang. Ja, nach dem hier zusammengefassten Rezept kann es Wirklichkeit werden, das neue, bezahlbare Leben ohne Vereinzelung und Verschwendung.

Yves Dreier, Eik Frenzel (Hg.): Social Loft. Auf der Suche nach neuen Wohnformen. Triest Verlag, Zürich 2023. Deutsch / Französisch, 272 Seiten + 48-seitiges Beiheft, ca. 200 Abbildungen und Pläne, Schweizer Broschur; ISBN 978-3-03863-075-3, CHF 39.–, Euro (D) 39.– Euro

 

Dem Buch ist ein Booklet beigefügt, das die Übersetzungen der teils in französischer, teils in deutscher Sprache verfassten Beiträge enthält.

 

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→ Zum Thema Clusterwohnen siehe auch die hier online kostenlos abrufbare Studie des deutschen Bundesinstituts für Bauforschung

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