«Die De­kar­bo­ni­sie­rung des En­er­gie­sys­tems muss ab­so­lu­te Prio­ri­tät ha­ben»

Strommangellagen im Winter, ein intelligenter Gebäudebetrieb, der hilft, Energie effizient zu nutzen, und dringend gesuchte Lösungen, um Wärme zu speichern: Das sind nur einige Aspekte der Energiewende. Peter Richner, stellvertretender Empa-Direktor, im Gespräch über mögliche Lösungen und Stolpersteine.

Publikationsdatum
04-09-2019
Luca Pirovino
Dipl. Kultur-Ing. ETH/SIA, MAS Energie-Ing., Verantwortlicher Themenfeld Energie und Berufsgruppe Technik (BGT)

SIA: Herr Richner, gemäss einer Analyse des Bundes droht eine mögliche schwere Strommangel­lage im Winter. Das Resultat: wirtschaftliche Einbussen und eine Gefährdung der inneren Sicherheit. Wie beurteilen Sie das?

Peter Richner: Man muss bei einer Strommangellage unterscheiden zwischen einem katastrophalen Event, das – aus welchen Gründen auch immer – einen grossflächigen Ausfall bewirkt, und einer schleichenden Verschlechterung der Versorgungs­lage. Diese führt am Anfang zu kürzeren Ausfällen und steigert sich allmählich. Letzteres betrachte ich eher als realistisch. Denn es ist nicht nur die Schweiz, die aus der Nuklearproduktion aussteigt, es ist auch Deutschland. Zudem
hat Frankreich einen Park von Nuklearkraftwerken, die ähnlich alt wie die Schweizer AKW sind. Und es ist nicht ganz klar, wie Frankreich damit umgehen will. Gleichzeitig weiss das Land auch, dass es aus den fossilen Energien aussteigen muss. Stromproduk­tionskapazitäten brechen weg, damit nimmt auch die Verletzlichkeit zu. Die Frage ist: Kann man schnell genug zusätzliche Kapazitäten am richtigen Ort aufbauen? Das ist das aktuelle Problem. Die Erstellung neuer Hochspannungsleitungen ist ein Mehrgenerationenprojekt. In Deutschland ist es beispielsweise zurzeit nicht möglich, den Windstrom in ausreichender Menge vom Norden in den Süden zu bringen.

SIA: In der Schweiz wird Ende Jahr das AKW Mühleberg abgeschaltet. Zukünftig fallen 6 % der Stromproduktion weg …

Peter Richner: Diese 6 % fehlen natürlich im Winter. Im Winter 2017/18 haben wir 6.7 TWh Strom importiert. Das ist die doppelte Jahresproduktion von Mühleberg. Auch wichtig: Es ist nicht nur die Strommenge. Es geht auch um die Leistung, die man zu einem bestimmten Moment garantieren muss, weil man das Netz bezüglich Spannung und Frequenz immer stabil halten muss.

SIA: Deutschland ist schneller mit dem Problem konfrontiert, weil bis 2022 alle AKW vom Netz gehen. Bis jetzt tauscht man länderübergreifend Strom aus. Wenn im Winter alle zu wenig Strom haben …

Peter Richner: Dann treffen sich alle im virtuellen Importraum, den es nicht gibt.

SIA: Müsste die Schweiz denn nicht auch die Wasserkraft besser nutzen?

Peter Richner: Natürlich müsste man die Wasserkraft stärker ausbauen. Aber hier haben wir ein Akzeptanzproblem. Wir sind heute nicht mehr dazu bereit, Investitionen zu machen, bei denen der Ertrag erst in den nächsten Jahrzehnten anfällt. Wir sind nicht mehr dazu bereit, einen gewissen Preis zu zahlen – nicht nur in Franken, sondern auch zu sagen: Dieses schöne Gebiet wird halt jetzt überflutet und wird ein See.
Wenn wir ehrlich sind: Hätten wir nicht schon Stauseen, würde heute kein einziger mehr gebaut. Und da muss man sich als Gesellschaft schon fragen, wie weit wir bereit sind, für unseren hohen Lebensstandard auch zu bezahlen. Denn der hat einen Preis, und wir können die Kosten nicht einfach auf die nächste Generation abschieben.

SIA: Eine Empa-Studie schlägt zwei Lösungen für die Versorgungs­sicherheit im Winter vor: im Sommer grosse Mengen an Energie zu speichern und im Winter Energie im sonnigen Süden bzw. im windigen Norden zu gewinnen und hierher zu transportieren. Was ist Ihre bevorzugte Lösung?

Peter Richner: Das Problem ist so gross, dass es nicht die allein selig machende Lösung gibt. Wir müssen alle Potenziale ausschöpfen. Im Gebäudebereich stellt sich die Frage, wie wir die Wärme aus dem Sommer in den Winter transferieren. Die einfachste Lösung, die es heute gibt, sind Sondenfelder. Wir haben im Quartier einen Wärmeverbund und lagern im Sommer qualitativ hochwertige Energie ein. Diese Wärme kommt beispielsweise aus der Gebäudekühlung. Die Sondenfelder können im Sommer stark aufgewärmt werden. Im Winter holen wir die Wärme zurück. Diese kommt dann mit einer vergleichsweise hohen Vorlauftemperatur zurück. Dann muss die Wärmepumpe nur noch einen kleinen Wärmehub auf etwa 35 °C leisten, die fürs Heizen benötigt werden. Das bedeutet: weniger Stromverbrauch im Winter – eben dann, wenn der Strom knapp ist.

SIA: Apropos Energie speichern: Elon Musk hat vor etwa drei Jahren eine sogenannte Powerwall vorgestellt: Eine riesige Batteriewand, die man in die Garage stellt und mit der man sich selbst mit Energie versorgt. Ist das Science-Fiction?

Peter Richner: Dazu muss man wissen, was der Strom aus einer Batterie kostet. Da sprechen wir je nach Berechnung von 10 bis 20 Rappen pro kWh – nur um den Strom in die Batterie einzuspeisen und wieder herauszuholen. Die Produktion ist aber noch nicht bezahlt. Das ist teuer. Kommt hinzu: Wenn ich wirklich autark sein will, dann braucht es enorm viele Batterien, denn in der Schweiz muss man durchaus damit rechnen, dass im Winter für drei Wochen die Sonne nicht scheint.
Batterien im Gebäude­bereich sind für das sogenannte Peakshaving nützlich – um zu verhindern, dass es extreme Leistungsspitzen gibt. Damit wird auch der Selbstversorgungsgrad erhöht. Aber die letzten 20 bis 30 % der Eigendeckung sind unglaublich teuer. Den Rest abzudecken ist absolut sinnvoll. Als Beispiel: Mittags im Sommer, wenn die Sonne scheint und nicht gekocht oder gewaschen wird und das Elektroauto nicht am Laden ist, ergibt es Sinn, den erzeugten Strom der Photovoltaikanlage zu speichern, damit er am Abend genutzt werden kann. Eine Batterie kann da bereits heute attraktiv sein.

SIA: Sehen Sie weitere Lösungen?

Peter Richner: Wir müssen unbedingt weiter an der Effizienz arbeiten. Je weniger Energie wir im Winter benötigen, desto kleiner wird das Problem sein. Wir haben schon einen grossen Schritt im Gebäudebereich gemacht, müssen aber dranbleiben. Es sind immer die gleichen Massnahmen: Fenster ersetzen, Dach, Kellerdecke und Fassade dämmen. Und vor allem: danach einen intelligenten Betrieb der Gebäude gewährleisten. Das Schlimmste ist, wenn wir eine Lösung haben, aber deren Poten­zial nicht ausschöpfen. Schauen wir uns die Rechenzentren an: Ein Rechenzentrum muss in einer Siedlung platziert werden. Im Prinzip ist ein Rechenzentrum nur eine Widerstandsheizung mit einer Kaskadennutzung. Zuerst wird ein wenig gerechnet, und am Schluss gibt es ganz viel Wärme. Und was machen wir damit? Sicher nicht über einen Kühlturm wegventilieren. Wenn das Rechenzentrum im Nirgendwo steht, dann wird es schwierig, diese Wärme zu nutzen. Wenn es in einer bewohnten Gegend steht, kann es über ein lokales Wärmenetz Gebäude heizen, und möglicherweise kann man daraus einen grossen saisonalen Speicher machen.
Rechenzentren sind nur das eine. Je mehr wir eine durchmischte Nutzung haben, desto mehr unterscheiden sich die Lastprofile. Wenn wir eine reine Wohngegend haben, dann ist klar, dass es morgens, mittags und abends Spitzen gibt und dazwischen nichts. Bei einer gemischten Nutzung sieht das Profil des Energiebedarfs ganz anders aus. Wir können beginnen, lokal aus­zutauschen. Wenn wir das alles separieren, dann hat jeder temporäre Überschüsse und Defizite, mit denen er allein nicht umgehen kann. Im Verbund eröffnen sich ganz andere Möglichkeiten.

SIA: Die Energiestrategie 2050 beinhaltet nicht nur den Ausstieg aus ­der Atomkraft, sondern auch den Verzicht auf fossile Brennstoffe. Ketzerische Frage: Laden wir uns da nicht zu viel auf?

Peter Richner: Es ist eine Herkulesauf­gabe – zugegebenermassen. Aber was ist die Alternative? Die Dekarbonisierung des Energiesystems ist eine absolut prioritäre Aufgabe. Kein Land und keine Gesellschaft kann langfristig erfolgreich weiterbestehen, wenn der Klimawandel aus dem Ruder läuft. Wenn die Erwärmung auf vier Grad und mehr steigt, dann wird das eine Völkerwanderung auslösen, die alles, was man bisher gesehen hat, wie Peanuts erscheinen lässt.
Natürlich produzieren AKW auf den ersten Blick Strom mit sehr wenig CO2. Es ist aber eine Frage der Sicherheit, der Endlagerung und der Akzeptanz. Dazu kommt, dass alle AKW-Projekte, die im Moment in Europa und den USA realisiert werden, nicht in der Lage sind, Strom zu marktfähigen Preisen zu produ­zieren. Also sind AKW auch wirtschaftlich keine gute Lösung. Darum müssen wir primär auf Effizienz und erneuerbare Ener­gien setzen.

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