Der Gott­hard­pend­ler

Manno–Regensdorf retour

Im Tessin wohnen, in Zürich arbeiten und die Zeit im Zug für Sinnvolles nutzen: ein persönlicher Erfahrungsbericht.

Publikationsdatum
05-08-2015
Revision
22-11-2015
Marco Bettelini
Dr. sc. techn. ETH Zürich, Amberg Engineering, Lüftung & Sicherheit

«Als mein Vater Ende der 1940er-Jahre im Kanton Glarus arbeitete, nahm die Rückfahrt zu seinem Wohnort Caslano den besten Teil eines Tags in Anspruch. Die Generation meiner Grossväter kam nur für die Festtage nach Hause. Die Heimfahrt des ersten Tessiner Bundesrats, Stefano Franscini, dauerte 1848 drei Tage. Mit der neuen Gotthardlinie wird die Fahrtzeit Lugano–Zürich um eine Stunde auf 1 Stunde und 45 Minuten reduziert.

Das ist für Pendler gut machbar – und eröffnet ganz neue Perspektiven! Für den gelegentlich geschäftlich Reisenden ändert die verkürzte Reisezeit nicht viel. Das ergibt etwas längere Sitzungen bei den Kunden oder etwas kürzere Arbeitstage. Aber viele regelmässige Pendler treffen sich schon heute um 6:11 Uhr im ICN Lugano–Zürich. Einige schlafen, andere schwatzen, viele arbeiten.

Ich gehöre seit sechs Jahren zu dieser Gruppe, seit ich eine Arbeitsstelle bei einem Ingenieurbüro im Grossraum Zürich angenommen habe. Mein Arbeitsplatz ist in Regensdorf, mit meiner Familie lebe ich in Manno bei Lugano. Ich fahre typischerweise zwei bis drei Mal pro Woche ins Büro und wenn möglich am selben Tag zurück. Das bedeutet: lange Arbeitstage, häufig kurze Nächte.

Ich habe meine Wahl keinen Moment bereut. Die Reisezeit ist meine bevorzugte Zeit für die anspruchsvolleren Tätigkeiten: Studieren, Gestalten, Schreiben – und vor allem Denken. Im Büro in Regensdorf kann man mit Kollegen und Kunden zusammensitzen, arbeiten kann man im Büro zu Hause. 

Spannend sind die Perspektiven für junge Berufseinsteiger aus dem Tessin. Nach dem Studium «jenseits der Alpen», vielleicht nach einer Dissertation und vielem mehr, ist man in der Regel gespalten. Die Bindung zum Heimatkanton ist manchmal gross. Der Ehrgeiz, in führenden Unternehmen tätig zu werden, die häufig keinen Sitz im Tessin haben, ebenfalls.

Mit der neuen Gotthardlinie bieten sich neue Optionen, um Persönliches und Berufliches optimal zu verbinden. Im Tessin leben und trotzdem eine grosse berufliche Flexibilität behalten. Den Traumjob angehen, Entwicklungsperspektiven nachgehen, die Nähe zur ETH aufrechterhalten, Weiterbildungen absolvieren, Neues schaffen.

Neue Arbeitsmodelle und intelligente Unternehmer unterstützen diese Tendenz und er­öffnen neue Perspektiven. Die Südschweiz profitiert auch, indem sie durch die kürzeren Reisezeiten attraktiver wird als Arbeitsort für qualifizierte Arbeitskräfte, die nördlich der Alpen verwurzelt sind. Wie viele werden diese Chancen packen? Wie gross werden die gegenseitigen Vorteile für den mächtigen Wirtschaftsstandort Zürich und für meinen kleinen Ticino sein?

Wichtig ist, dass die neue Chance wahrgenommen und konkret nutzbar wird. Dafür sind aber leistungsfähigere und zuverlässigere öV-Anbindungen im Tessin erforderlich. Ich zähle mich zu den Privilegierten, die den Wohnort auf Fahrraddistanz zum Bahnhof verlegen konnten. Das geht nicht jedem so, und praktikablere Lösungen sind erforderlich. Bisher gibt es nur einige Lösungsansätze. 

Dieser persönlichen Sicht erlaube ich mir eine noch persönlichere Note anzufügen. Mit vielen Kolleginnen und Kollegen hatte ich das Privileg, an der Planung des Gotthard-Basistunnels mitarbeiten zu dürfen. Dieses Bauwerk wird weltweit bewundert.

Überall, wo ich beruflich oder privat hingehe, darf ich technische Herausforderungen und Lösungen erläutern. Es macht schon ein bisschen stolz, als Ingenieur dabei gewesen zu sein – und es freut mich, in 16 Monaten den Tunnel als Kunde nutzen zu dürfen.

Ich freue mich unheimlich auf die neue Gotthardbahn. Den langsamen Wechsel der Jahreszeiten auf der schönen Berglinie werde ich zwar vermissen. Aber ich hoffe, dass meine beiden Töchter, zurzeit im Liceo, die neuen Chancen voll packen können!»

 

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