Das Ver­han­deln der ei­ge­nen Ge­gen­wart

Ein studentischer Wettbewerb zur Utopie des Lernens in der Zukunft bringt überraschend vielfältige Lösungsansätze hervor.

Publikationsdatum
23-02-2023

«Utopia. Lernen der Zukunft», offener Wettbewerb für Studierende, ausgelobt von Itten + Brechbühl (2022).

Vom Begriff der Utopie geht ein Zauber aus. Er ist eine Einladung zum losgelösten Denken, zum Entwickeln eines zukunftsorientierten Ideals. Im Studie­rendenwettbewerb «Utopia», bezogen auf das Lernen der Zukunft, öffnet er analoge und digitale Räume, imaginierte Bildwelten und existierende Architekturen, die sich auf ihre Nutzbarkeit als Lernumgebung überprüfen lassen müssen.

Besonders spannend ist die Suche nach einer Identität, die die Lernenden auf eine neue Weise an die inzwischen ortlosen Institutionen binden könnte. So interpretierten auch viele der Teilnehmenden am studentischen Wettbewerb «Utopia» die Aufgabe und brachten dank dieser Freiheit im Denken inspirierte und inspirierende Lösungen hervor.

Blick in die Zukunft

Vor 100 Jahren legten Otto Rudolf Salvisberg und sein Protegé Otto Brechbühl einen radikalen Entwurf für das Unigelände Muesmatt in Bern vor, der den Beginn einer neuen Lernform ermöglichte und abbildete. Das Bauvorhaben war das erste, das die Architekten unter dem Namen Itten + Brechbühl ausführten. Um dieses Jubiläum im Sinne der Gründerväter zu feiern, wandte sich das Büro, das heute 350 Mitarbeitende zählt, mit einem Ideenwettbewerb an Studierende.

Statt eines Rückblicks veranstaltete das Büro einen Wettbewerb, dessen Inhalt zugleich als Hommage an seine eigenen Ursprünge zu verstehen ist. Vierzehn anonym eingereichte Antworten auf die Frage nach dem «Organismus für die Zukunft des Lernens» trafen ein. Die Offenheit der Aufgabe spiegelt sich in völlig unterschiedlichen Ansätzen.

Das erstrangierte Team der ETH Zürich setzt auf die Auflösung der Universität in mehrere unabhängige Hubs, die als Lernorte mit unterschiedlichen Qualitäten digital vernetzt sind. Architektonisch stellen sich die Verfasserinnen die Hubs als spiralförmige Bauten vor, die in einem gut verbundenen Raster über die Stadt verteilt sind. Der klassische Campus bleibt als Ort der Identifikation und des Austauschs in veränderter Weise von Bedeutung und Teil des Systems.

Die Universität ist überall

Ein rein digitales Projekt, ebenfalls von Studierenden der ETH Zürich verfasst, landete auf dem zweiten Rang. Kern der Idee ist die Entwicklung einer App, die als Börse für zukünftige Lernorte funktioniert. Am Beispiel der Stadt Bern haben die Beteiligten eine Liste bestehender öffentlicher Orte zusammengetragen, die sich zum Lernen eignen – sie finden sie in ungenutzten Tiefgaragen oder auch im Münster. Weil die gewählten Räume allgemein zugänglich sind, stellen sie auch einen Beitrag zur Diskus­sion um Bildung für alle dar. Einzige Kritik an dem Wettbewerbsbeitrag ist seine Realitätsnähe – im Grunde kann die Idee sofort umgesetzt werden.

Ganz im Gegensatz dazu basiert ein Beitrag aus der TU Braunschweig auf einer intellektuellen Grundidee: Der Schaffung eines fiktiven Raums für geistige Entfaltung, der durch das Nutzen aller Sinne entsteht. Der Verfasser geht von der These aus, dass sich jeder Mensch besonders stark auf einen seiner Sinne verlässt. Jedem davon ordnet er eine geometrische Figur zu. Indem er Räume imaginiert, die alle Geometrien in sich vereinen, bietet er Lernumgebungen an, die alle Sinne gleich­mässig ansprechen und damit das Lernen bestmöglich unterstützen. Die Umsetzung der abstrakten Idee zum tatsächlichen Raum hält allerdings dem selbst gesetzten Niveau nicht stand.

Nachdenken über das Lernen

Ganz ohne architektonische Vision und auch ohne die eigentlich geforderten Planzeichnungen kommt der viertplatzierte Beitrag von Studierenden der Fachhochschule Muttenz aus. In einem textbasierten Blatt stellen sie die Verlagerung des Lern­orts von räumlichen Umgebungen auf ein soziales Netzwerk heraus. Die Gegenwart anderer Menschen ist die Quelle von Wissen, auf die sie setzen. Eine logische Schlussfolgerung daraus ist die Einordnung von Lernen als lebenslangen permanenten Zustand, der uns begleitet und an keinen Ort gebunden ist. Obwohl diese Betrachtungsweise zu keiner architektonischen Utopie und auch zu keiner der geforderten Planzeichnungen führt, schätzte die Jury die vertieften Gedankengänge.

Die ausgezeichneten Beiträge werden anlässlich der nächsten Architekturbiennale im European Cultural Center in Venedig ausgestellt sein (20. 5. bis 26. 11. 2023).

Für 2024 kündigen Itten + Brechbühl einen weiteren Ideenwettbewerb für Studierende an, der wieder Raum für neue Szenarien und eine Plattform für die Arbeiten der jungen Generation bieten will. Sol­che Gelegenheiten, die Grenzen der Realität gedanklich zu überschreiten und dafür sogar einen Preis in Aussicht gestellt zu bekommen, soll­ten die Studierenden nicht unge­nutzt verstreichen lassen!

Dieser Artikel ist erschienen in TEC21 6/2023 «An die frische Luft!».

-> Jurybericht auf competitions.espazium.ch.

Lernwerk

Geschätzte Universität

Während Du in der Vergangenheit als traditioneller Campus das Herzstück der universitären Ausbildung gebildet und Räume für jegliche Anforderungen und die ergänzende und notwendige Infrastruktur geboten hast, haben sich die Zeiten mit der fortschreitenden Digitalisierung und letztendlich auch mit der Pandemie verändert. Vorlesungen und Kurse können und werden zunehmend online stattfinden. Dies ermöglicht das zeit- und ortsunabhängige Studieren und auch, über das mobile Endgerät am universitären Leben teilzunehmen. Der traditionelle Campus wird dadurch hinfällig.

Dieser Entwicklung zum Trotz gibt es auch heute noch Qualitäten, die wir an dir nicht missen möchten. In Zukunft sollst Du noch stärker ein Ort des Zusammentreffens und des Austauschs sein und als Anlaufstelle dienen. Denn schlussendlich bist Du auch der Ort, mit dem wir uns identifizieren, und der Ort, der uns alle verbindet.

Deine Studierenden

Fachjury

Dr. Sabine v. Fischer, Agentur für Architexte; Dr. Etna R. Krakenberger, Stabsleitung Lehre, Universität Bern; Pascal Posset, Landschaftsarchitekt BSLA, Hager Partner; Shadi Rahbaran, Architektin BSA, Rahbaran Hürzeler Architekten; Andreas Ruby, Direktor SAM (entschuldigt)

Internes Preisgericht Itten + Brechbühl (nicht stimmberechtigt)

Christoph Arpagaus, Vorsitzender der Geschäftsleitung; Daniel Blum, Leiter Entwurf Basel; Lidor Gilad, Partner, Leiter Entwurf Schweiz

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