Bau­wer­ke ge­zielt ver­bes­sern

Investieren mit Berechnung

Verstärken ist oft sehr teuer. Die Norm SIA 269 erlaubt es, Kosten und Nutzen bei Erhaltungsmassnahmen zu berücksichtigen. Die erfolgreiche Anwendung bei einer Lawinengalerie zeigt eine beauftragte Expertin.

Publikationsdatum
22-10-2015
Revision
15-11-2015

Alle bestehenden Tragwerke auf das Sicherheitsniveau von Neubauten zu verstärken wäre aus finanziellen Gründen nicht tragbar. Stattdessen sollte man nur dort verstärken, wo der Sicherheits­gewinn die Investitionen rechtfertigt. Mit der risiko­gerechten Bemessung nach Norm SIA 269 lassen sich Kosten-Nutzen-Betrachtungen in das Bemessungskonzept für bestehende Bauten integrieren.

Der etwas erhöhte Projektierungsaufwand wird durch das Sparpotenzial bei den Verstärkungsmassnahmen mehr als wettgemacht.Dies zeigte sich gut beim An­wenden auf die Lawinengalerie Scopi am Lukmanierpass. Diese in den 1960er-Jahren gebaute Galerie hat viele Lawinen schadlos überstanden. Zur Bemessung verwendete man damals für Standardgalerien geschätzte Lawineneinwirkungen.

Um die Instandsetzungs­massnahmen 2014 zu planen, bestimmte man die Einwirkungen neu. Das heute übliche Vorgehen führte jedoch zu deutlich höheren Lasten. Mit dem risiko­basierten Ansatz der Norm SIA 269 konnte man aber die Abschnitte der Galerie identifizieren, bei denen der Gewinn an Sicherheit die Kosten einer Verstärkung rechtfertigt. 

Kosteneffizient und sicher im Bestand

Lastannahmen ändern im Lauf der Zeit, sei es wegen neuer Anforderungen oder weil neue Methoden zur Bestimmung der Bemessungswerte höhere Lasten ergeben. Die Trag­sicherheit bestehender Bauten lässt sich deshalb häufig mit den aktuellen ­Normen nicht mehr nachweisen.

Das nachträgliche Ertüchtigen ist allerdings oft sehr aufwendig, und es stellt sich die Frage, ob die Kosten der Verstärkungsmassnahmen in einem akzeptablen Verhältnis zur erreichten Sicherheit stehen. Wenn der wirtschaftliche Nutzen der Massnahmen die Kosten übersteigt, sind die Sicherheitsmassnahmen unbestritten.

Die Norm SIA 269 zeigt in ihren Anhängen B und C, wie man solche Risikobetrachtungen für bestehende Bauten durchführt. Die geforderte Zuverlässigkeit hängt von den Konsequenzen eines Tragwerksversagens und der Massnahmeneffizienz (das Verhältnis von Nutzen zu Kosten der Massnahme) ab.

Die Grundidee ist einfach: Je grösser die Schäden im Versagensfall und je grösser die Effizienz der Sicherheitsmassnahmen sind, desto zuverlässiger sollte das Tragwerk sein. Zusätzlich ist nachzuweisen, dass das individuelle Personenrisiko durch ein Tragwerksversagen kleiner ist als 10–5/Jahr, im Mittel also höchstens einmal alle 100 000 Jahre eintritt.

Verstärken – aber am richtigen Ort

Die Konsequenzen eines Tragwerksversagens sind bei der Galerie Scopi aufgrund des niedrigen Verkehrsaufkommens gering. Ein Verstärken des Tragwerks auf das Sicherheitsniveau der aktuellen Normen für Neubauten wäre sehr aufwendig. Deshalb lässt sich die Galerie der niedrigsten Zuverlässigkeitsklasse nach Norm SIA 269 (kleine Massnahmeneffi­zienz) zuweisen, in der eine jährliche Versagenswahrscheinlichkeit Pf  ≈ 10–3 (ein Versagen alle 1000 Jahre) akzeptiert wird. Sind diese Anforderungen an die Zuverlässigkeit erfüllt, bleibt auch das Individualrisiko stets kleiner als 10–5 pro Jahr.

Der Zielwert des Zuverlässigkeitsindexes beträgt somit für die Galerie Scopi β= 3.1. Dieser Wert wird bei der Festlegung der Bemessungswerte berücksichtigt und entscheidet so, ob bzw. in welchen Abschnitten der Galerie Verstärkungsmassnahmen erforderlich sind.

Risikogerecht bemessen

Mithilfe des Zuverlässigkeitsindexes β lassen sich die aktualisierten Bemessungswerte der Einwirkungen und Widerstände bestimmen: die Überprüfungswerte Ed, act und Rd, act gemäss SIA 269, Anhang C. Diese Werte beinhalten bereits einen gewissen Sicherheitsfaktor, der umso höher ausfällt, je grösser die Anforderungen an die Tragwerkszuverlässigkeit sind. Die oben beschriebenen Risikobetrachtungen fliessen so direkt in die statische Nachrechnung eines bestehenden Bauwerks ein.

Das Vorgehen ist auf alle Bemessungsvariablen anwendbar, bei der Galerie Scopi wurden nur die Lawinenein­wirkungen auf diesem Weg bestimmt. Wegen der ­grossen Unsicherheiten bei der Modellierung hat der risikobasierte Ansatz hier das grösste Potenzial. Für die übrigen Bemessungswerte wurde der klassische Ansatz mit festen Sicherheitsfaktoren verwendet, was zu konservativeren Bemessungswerten führte als der risikobasierte Ansatz mit einem Zielzuverlässigkeits­index von β= 3.1.

Wo die Tragsicherheit mit den aktualisierten Bemessungswerten nicht nachweisbar ist, ist das Tragwerk zu verstärken. Bei der Lawinengalerie Scopi ändert dies die Berechnung der Massnahmeneffizienz: In den Bereichen, in denen die Galerie ohnehin freigelegt wird, ist der zusätzliche Aufwand einer Verstärkung gering. Ertüchtigungsmassnahmen sind deshalb vor allem für höhere Zuverlässigkeitsklassen (geringe Konsequenzen, aber grosse Massnahmeneffizienz) zu planen. 

Lawinenablagerungen als massgebende Einwirkung

Um die aktuellen Bemessungswerte festzulegen, muss deren Wahrscheinlichkeitsverteilung bekannt sein. Die Aufzeichnungen der Lawinen­einwirkungen waren aber nicht ausreichend, deshalb wirkten Experten des In­stituts für Schnee- und Lawinenforschung beim Ermitteln dieser Einwirkungen mit. Massgebend sind in der Regel die ruhenden Lawineneinwirkungen. 

Drei Szenarien unterschiedlicher Wiederkehrperioden führten zur Bestimmung der Ablagerungen auf der Galerie. Meist werden 30- und 300-jährige Ereignisse verwendet. Hier entschieden sich die Experten aber, die Szenarien mithilfe physikalischer Überlegungen festzulegen. Die Lawinenablagerungen für lange Wiederkehrperioden liessen sich so aus der Anzahl der Lawinenabgänge im selben Winter ermitteln.

Investitionen am falschen Ort vermeiden

Anhand der Nachrechnung mit den aktuellen Werten konnte man feststellen, in welchen Abschnitten der Galerie Verstärkungsmassnahmen erforderlich sind. Im Vergleich zum Standardkonzept der SIA-Normen reduzierte sich die zu verstärkende Länge auf etwa ein Drittel, die risikobasierte Methode der Norm SIA 269 führte also zu beträchtlichen Einsparungen, und man konnte die Investitionen auf Bereiche beschränken, wo der Gewinn an Sicherheit in einem sinnvollen Verhältnis zu den Kosten steht.


Literaturhinweise
– Katharina Fischer u.a.: Reevaluation of design loads for an existing avalanche protection gallery – a probabilistic approach, IABSE Conference Geneva, 2015
– Astra RL 12007: Einwirkungen infolge Lawinen auf Schutzgalerien

Am Bau Beteiligte


Bauherrschaft
Tiefbauamt Graubünden


Experten Lawinen
WSL - Institut für Schnee- und Lawinenforschung SLF


Vorprojekt
Chitvanni + Wille GmbH, Dipl. Bauingenieure ETH/SIA

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