«Bau­en ist im­mer kom­plex»

Bernhard Gysin ist seit Ende April 2023 Präsident der Zentralkommission für Ordnungen (ZO). Im Interview spricht er über demokratische Prozesse und die Arbeit im Milizsystem bei der Entwicklung des SIA-Ordnungswerks.

Publikationsdatum
14-06-2023

Bernhard Gysin ist seit fünf Jahren Partner in einem Unternehmen für Baumanagement. Das Gespräch findet am Firmensitz im Grosspeter Tower beim Bahnhof Basel statt. Das Hochhaus hat 2017 den Schweizer Solarpreis gewonnen. Es sei eines der ersten Gebäude, das sämtliche Fassaden solar nutzt, sagt Bernhard Gysin. Er spricht überlegt und mit ruhiger Stimme. Sein Engagement für Baukultur ist in jedem Satz spürbar.

SIA: Herr Gysin, die SIA-Delegierten wählten Sie Ende April zum Präsidenten der Zentralkommission für Ordnungen (ZO) – herzliche Gratulation. Wie war Ihr Eindruck vom Anlass?

Bernhard Gysin: Die Delegiertenversammlung fand in Basel statt. Das hat mich als Basler natürlich besonders gefreut (lacht). Die beiden Co-Präsidenten ad interim, Urs Rieder und Alain Oulevey, haben in ihren jeweiligen Muttersprachen Deutsch und Französisch moderiert. Das hat den Austausch bereichert. Die Diskussionen habe ich als kon­struktiv und engagiert wahrgenommen. Vor allem hat mich beeindruckt, wie es der Versammlung gelungen ist, die guten Voten in klare Beschlüsse münden zu lassen und mit den Beteiligten ein gemeinsames Vorgehen festzulegen. Dieses Aufeinandertreffen von Teilnehmenden aus der ganzen Schweiz und die Vielfalt an Haltungen, die das Interesse am Bauen eint, macht die Faszination des SIA aus.

Was hat Sie dazu bewogen, sich für das Amt des ZO-Präsidiums zu bewerben?

In der Schweiz definieren Baufachleute die Normen und Ordnungen. Sie beteiligen sich mit einem ungeheuren Engagement. Und das nicht etwa, weil sie am Ende des Jahres einen Bonus erwarten. Vielen geht es darum, das Normen- und Ordnungswerk als Basis für einen nachhaltig gestalteten Lebensraum zu er­halten und weiterzuentwickeln. Im Diskurs über Kantons- und Sprachgrenzen hinweg, basierend auf einem Konsens Regeln zu entwickeln, ist etwas typisch Schweizerisches. Solche Prozesse zu begleiten und mitzugestalten, reizt mich an diesem Amt.

Sie verwenden «Diskurs» und «Konsens» im Zusammenhang mit der Erarbeitung der Ordnungen im Milizsystem – das ist ein Qualitätsmerkmal. Welche Herausforderungen sind diesem Prozess eigen?

Der basisdemokratische Weg ist der beste für die Entwicklung des Ordnungswerks. Das ist unbestritten. Aber klar, er bringt auch Herausforderungen mit sich. Der SIA ist ein breit aufgestellter Verein. Es werden nie alle einer Meinung sein. Die daraus resultierenden Diskussionen sind wichtig und sollen geführt werden. Solche Prozesse benötigen Zeit und müssen auf ein gemeinsames Ziel ausgerichtet sein. Ab einem gewissen Zeitpunkt braucht es Entscheidungen, damit sich die Diskussionen nicht endlos im Kreis drehen. Das ist wie in der Architektur: Irgendwann muss ich loslassen und vom Planen ins Bauen kommen.

In der Leitung von Grossprojekten haben Sie langjährige Erfahrung. Prozesse mit vielen Beteiligten sind Ihnen also vertraut.

Das ist so. Aber letztendlich hängt die Komplexität nicht von der Grösse eines Projekts ab. Bauen ist immer komplex. Es ist eine Vielzahl von Personen involviert. Das macht aber die Faszination des Architektenberufs aus. Er umfasst eben nicht nur die gestalterische, sondern auch die soziale Dimension. Das Bauwerk hat im besten Fall die nächsten 100 Jahre Bestand und wird damit auch Teil der gelebten Umwelt. Deshalb ist es so wichtig, dass sich alle Beteiligten von der Bauherrschaft über die Planenden bis zu den Unternehmen gemeinsam für die Qualität des Bauwerks einsetzen und gemeinsam an einem Strang ziehen.

Als Bauherrenvertreter kennen Sie die Interessen von Bauherrschaften und Planenden. Weshalb ist es wichtig, beide Sichtweisen im Ordnungswerk abzubilden?

Die Integration beider Sichtweisen ist ein Element für die Akzeptanz einer Ordnung. Und diese Akzeptanz ist eine Voraussetzung dafür, dass die Ordnungen als Verstän­digungsgrundlage für die Zusammenarbeit genutzt werden. Das macht sie so wertvoll. Seien es die SIA-Vergabeordnungen, die SIA 118 oder die Leistungs- und Honorarordnungen (LHO) des SIA. Sie stecken den Rahmen ab, in dem sich die Akteure finden und sind der gemeinsame Nenner für den Aufbau der Zusammenarbeit.

Sie haben auch den gesamtschweizerischen Bezug erwähnt. Gleichzeitig sind Sie als Vorstandsmitglied der SIA-Sektion Basel seit 2015 auf regionaler Ebene engagiert.

Das ist richtig und ich bleibe auch weiterhin im Vorstand der Sektion aktiv. Mir ist der Kontakt vor Ort sehr wichtig. So bekomme ich mit, welche Themen die Branche in der Region beschäftigen, die auch auf übergeordneter Ebene diskutiert werden müssen. Zum Beispiel die konkrete Umsetzung von Re-Use: Bauherrschaften verlangen von den Planenden immer früher detaillierte Aussagen, besonders zu den CO2-Bilanzen. Da stellt sich die Frage, wie solche Themen integriert werden. Ausserdem benötigen die Planenden eine Grundlage für die Entschädigung solcher Aufwände. Denn eine Entschädigung ist immer auch verbunden mit der Wertschätzung einer Leistung.

Der Klimawandel beschäftigt die Gesellschaft und die Baubranche. Am 18. Juni stimmt die Schweiz über das Klimaschutzgesetz ab. Sie haben schon früh ein CAS zu regenerativen Materialien besucht. Welchen Beitrag kann die Beschaffung an einen nachhaltig gestalteten Lebensraum leisten?

Einen grossen, davon bin ich überzeugt. Ich berate Bauherrschaften beispielsweise in der Wettbewerbsorganisation. In dieser Funktion versuche ich, Auftraggeber zu motivieren, die Weichen für ein nachhaltiges Bauwerk schon früh zu stellen. Zum Beispiel indem sie die richtigen Aufgaben definieren und mit den geeigneten Planenden für diese Aufgabe zusammenarbeiten. Das Bewusstsein dafür ist aber häufig schon vorhanden. Die Verantwortlichen stellen sich die Frage, ob es wirklich einen Ersatzneubau braucht und eine Sanierung nicht die nachhaltigere Lösung wäre. Ein weiterer Faktor ist der Umgang mit Baustoffen. Der Beitrag des Bauens an die CO2-Bilanz ist enorm. Es braucht einen überlegten Umgang mit Materialien. Wann ist die Verwendung von Beton sinnvoll oder gibt es Alternativen dazu? Lehm ist ein Beispiel, das wir zwar bauphysikalisch noch nicht vollständig im Griff haben, das aber seit langem funktioniert.

Seit Januar 2021 ist das revidierte Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) in Kraft. Die Kantone ziehen nach. Spüren Sie bereits Änderungen in der Praxis?

Bisher noch nicht. Die Kantone Basel-Stadt und Basel-Landschaft sind in der Umsetzung und haben die entsprechenden Gesetze beschlossen. Die neue IVöB soll nach dem Sommer in Kraft treten. Ich bin gespannt, ob danach Veränderungen spürbar sind. Letztendlich hängt es von den Beschaffungsstellen ab, inwiefern sie die neuen Entscheidungsspielräume nutzen und darin gestützt werden. Anhand des Preises zu beurteilen, ist einfach. Das sind konkrete, vergleichbare Zahlen. Die Bewertung qualitativer Kriterien ist dagegen immer eine Beurteilung mit einer Begründung. Man muss Stimmen aushalten können, die sagen, diese Beurteilung sei falsch. Ich hoffe sehr, dass die Politik diesen Spielraum ausschöpft, den die neue Gesetzgebung noch expliziter als bisher erlaubt. Wir können Heraus­forderungen wie dem Klimawandel nur mit einer ganzheitlichen Herangehensweise begegnen.

Eine letzte Frage zum Abschluss: Worauf freuen Sie sich in Ihrem neuen Amt?

Ich hatte bereits Gelegenheit, an einigen Sitzungen der ZO teilzunehmen. Erich Offermann füllte dieses Amt sensationell aus und im Gremium ist ein beeindruckendes Know-how vertreten. Nach dieser Vorbereitungszeit freue ich mich nun auf einen bereichernden, offenen und auch kritischen Diskurs.

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