Auf der Su­che nach Qua­li­tät

Zwischen Managementsystemen, subjektiver Wahrnehmung und einem Zustand der Abwesenheit von Mängeln: Qualität – mal als Attribut, mal als Substantiv – ist in aller Munde, und alle meinen damit etwas anderes. Eine Annäherung.

Publikationsdatum
21-07-2021
Laurindo Lietha
BSc FHO Civil Engineering/Bauökonom DAS, Fachspezialist Ordnungen/Beschaffung SIA

Erster Januar 2021, Tatort: Schweiz, Bundesebene. Das neue Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen (BöB) tritt in Kraft. Die Abkehr vom Preiswettbewerb hin zum Qualitätswettbewerb wird bejubelt. Zweieinhalb Jahre früher: Die Morandi-Autobahnbrücke in Genua stürzt ein. Menschen sterben. Die Medien schreiben von Qualitätsmängeln in Erstellung und Unterhalt. Bei einem Wettbewerbsbeitrag wird über die «grosse Qualität des Entwurfs» gesprochen. Und der SIA? Arbeitet an seiner Vision eines zukunftsfähigen und nachhaltig gestalteten Lebensraums von hoher Qualität.

Qualität nach ISO 9000

Unmöglich kann in all diesen Fällen mit dem Begriff «Qualität» das Gleiche gemeint sein. Oder doch? Die Qua­­litätsmanagementnorm ISO 9000 definiert Qualität als «Grad, in dem ein Satz inhärenter Merkmale eines Objekts Anforderungen erfüllt». Qualität ist also ein Grad, eine Erfüllungsquote in einem System von Anforderungen an etwas. Der Qualitätsbegriff ist demnach etwas Subjektives. Es gilt somit festzulegen, welches Wertesystem und welchen Katalog an Anforderungen wir an etwas – in diesem Fall an die Prozesse im Lebenszyklus eines Bauwerks oder einer Anlage – anlegen.

Das ist insoweit einfach, als wir die Anforderungen in quantitativ messbare Merkmale einordnen können. Beispielsweise können wir die Grösse, die Härte, die stoff‌liche Zusammensetzung, den Feuchtigkeitsgehalt, die Oberflächenbeschaffenheit oder die graue Energie eines Herstellungsprozesses in einem Anforderungskatalog festhalten und die Abweichung des untersuchten Gegenstands festhalten. Das indi­viduell gewichtete Gesamtdelta von Soll zu Ist beziffert folglich die Qualität.

Merkblatt SIA 2007«Qualität im Bauwesen»

Vor 20 Jahren publizierte der SIA das revidierte Merkblatt 2007 Qualität im Bauwesen – Aufbau und Anwendung von Managementsystemen. Die Autoren – Vertreterinnen und Vertreter von verschiedenen Organisationen in verschiedenen Funktionen – halten darin fest, dass dieses Dokument helfen soll, sämtliche Prozesse bei der Planung und Erstellung eines Bauwerks zu sys­tematisieren und zu optimieren.

Zudem soll es den beteiligten Unternehmen – von der Bauherrenorga­nisation über Planungsbüros bis zu den ausführenden Unternehmen – helfen, ihre interne Organisation zu einem konformen Qualitätsmanagementsystem zu entwickeln. Denn, so wird geschrieben, qua­litätsvolle Planungs- und Bauprozesse setzen Unternehmensqualität ­voraus. Das Ei bedingt das Huhn und umgekehrt.

Ist diese Organisationsqualität gegeben, muss eine gemeinsame Sprache gefunden ­werden. Darum harmonisiert das Dokument auf beinahe zehn Seiten die relevanten Begriffe, um überhaupt den Kern angehen zu können: das projektbezogene Qualitätsmanagement – kurz PQM. Für dieses müssen Projektanforderungen definiert, Risiken evaluiert sowie die Organisation der Organe und eine Vereinbarung über Qualitätsziele festgehalten werden. In der Entwicklung des Projekts hilft das PQM fortan als Kommunikations- und Prozesshilfe sowie als Führungsinstrument.

Davos Qualitätssystem für Baukultur

Während das Merkblatt den Prozess als Grundlage für Qualität definiert, widmet sich das Davos Qualitätssystem für Baukultur dem Resultat. Es ist als Folgedokument der Erklärung von Davos von 2018 zu lesen, die für eine hohe Baukultur für Europa wirbt. «Baukultur umfasst alle raumwirksamen Tätigkeiten, vom handwerklichen Detail bis hin zur grossmassstäblichen Stadtplanung und Landschaftsentwicklung», umschreiben die Verfasserinnen und Verfasser, mit dabei auch der SIA, in der Einleitung den grundlegenden Begriff.

Es wurden acht Kriterien definiert, um die baukulturelle Qualität von Orten zu objektivieren. Zu diesen Kriterien wurden jeweils Schlüsselfragen formuliert, die helfen sollen, ein Konzept von Bau­kultur zu definieren. Situativ sind bei dem System die Kriterien Gouvernanz, Funktionalität, Umwelt, Wirtschaft, Vielfalt, Kontext, Genius Loci und Schönheit zu gewichten.

Die Fragen dazu sind oft nicht ­quantitativer Natur, sondern be­dingen ein Verständnis von weitreichenden Konzepten. So wird beispielsweise gefragt: «Verhindert der Ort Segregation, Gentrifizierung und Gettoisierung in bestimmten Ge­bieten?» Oder: «Trägt der Ort zum räumlichen und sozialen Zusammenhalt bei, indem er soziale Interaktionsmöglichkeiten schafft oder verbessert sowie eine gemeinsame Vision im Hinblick auf Identitäten und Stolz der Bürgerinnen und Bürger stärkt?» Oder: «Werden dem Ort ­spezifische ästhetische Werte zu­geschrieben, die formale Qualitäten und die Einbindung in einen komplexen Kontext gleichwertig berücksichtigen?»

Erster SIA-Ordnungstag

Beide Dokumente bezeichnen ihr System als ganzheitlich, und doch wählen sie nicht nur gänzlich verschiedene Indikatoren, sondern auch unterschiedliche Betrachtungsweisen. Aus diesen entstehen verschiedene Anforderungskataloge zur Bemessung von Qualität, die unterschiedliche Beurteilungen zulassen. Ein Bau kann hervorragend gemanagt, kostengünstig und zur Zufriedenheit der Kundschaft realisiert werden und dennoch keinen baukulturellen Beitrag leisten. Umgekehrt kann ein Bau die Kriterien des Davos Qualitätssystem für Baukultur hervorragend erfüllen, doch in der Organisation einen Scherbenhaufen anrichten.

Diesen komplex wirkenden Brückenschlag von Prozess- zu Ergebnisqualität versucht der SIA am ersten SIA-Ordnungstag einzuleiten. Ausgehend vom Zweck des neuen BöB – dem wirtschaftlichen und den volkswirtschaftlich, ökologisch und sozial nachhaltigen Einsatz der öffentlichen Mittel – sowie dem Davos Qualitätssystem für Baukultur stellen sich unter anderem Kerstin Müller, dipl. Ingenieurin, Architektin vom Baubüro in situ; Heinz Ehrbar, Präsident der Kommission SIA 118; Stefan Kurath, Professor am Departement Architektur, Gestaltung und Bauingenieurwesen an der ZHAW, sowie Mario Marti, Geschäftsführer der usic, mit ihren jeweiligen Thesen zu Qualität der Debatte.

Erster SIA-Ordnungstag

Der erste SIA-Ordnungstag findet am 16. September 2021 im Kongresshaus Zürich statt. Drängende Fragen des Beschaffungswesens werden dabei mit Vertreterinnen und Vertretern aus Wirtschaft, Politik, Gesellschaft und Forschung diskutiert.

 

Mehr Informationen und Tickets gibt es auf:
ordnungstag.sia.ch

 

Haben Sie auch eine These zur Qualität? Reichen Sie sie ein bei laurindo.lietha [at] sia.ch

 

Bewerbungen für Arbeitsgruppe SIA-Merkblatt 2007

«Durch unser Denken und Handeln verpflichten wir uns, den Wertbegriff ‹Qualität› periodisch zu hinterfragen und ein umfassendes Qualitäts­verständnis zu pflegen», hielten die Verfasserinnen und Verfasser vor 20 Jahren fest.

 

Folgerichtig ist nun gegenwärtig eine Spurgruppe dabei, Ziele festzulegen und eine Arbeitsgruppe zusammenzustellen, um die Aktualisierung und Weiterentwicklung des SIA-Merkblatts 2007 voranzutreiben.

 

Sollten Sie interessiert sein, Teil dieser Arbeitsgruppe zu werden, richten Sie Ihre Bewerbung an laurindo.lietha [at] sia.ch

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