Jenseits der Postkartenmotive
Ein faszinierendes Patchwork aus verschiedenen Epochen und Stilen: Marseille fordert den Blick immer wieder heraus, sowohl für Erstbesucher als auch für Kennerinnen. Dieser neue Architekturführer lädt ein, die Stadt zu entdecken und sich dabei auf Ungewisses einzulassen.
Marseille zeichnet sich nicht nur durch die französische Eleganz der Grande Nation aus, die im Zentrum an Paris erinnert, sondern auch durch den Wind, senkrechte Felswände und das Licht des Mittelmeerraums. Dieses Grundgewebe ist durchsetzt von einem eigenständigen und oft eigenwilligen Patchwork aus Epochen, Stilen, Funktionen und Massstäben. Bei der Konzeption eines Architekturführers liegt hier also noch mehr als bei anderen Städten die Herausforderung in der Auswahl der Gebäude.
Die Stadtfläche, die doppelt so gross ist wie die der französischen Capitale, verfügt über eine immense Vielfalt. Wer zum ersten Mal hierherkommt, kann während seines Spaziergangs durch das Zentrum die schön instand gehaltenen Monumente in der Publikation nachschlagen. Jemandem, der die Stadt besser kennt, bietet der Architekturführer viele versteckte Trouvaillen, die man suchen muss und dank der QR-Codes bei jedem Beschrieb auch findet.
Es handelt sich nicht immer um Bauten berühmter Architekten – Le Corbusier, Zaha Hadid, Álvaro Siza Vieira und Jean Prouvé haben hier geplant und gebaut –, es gibt auch viele Unikate, die zwar architekturhistorisch eher unbedeutend sind, von denen aber jedes auf eine andere Art das Stadtbild prägt, manchmal diskret, manchmal überraschend und oft einschneidend.
Erst das Unerwartete vervollständigt das Bild
Das Diffuse, nicht Klassifizierbare schreibt Marseille eine überraschende Lebendigkeit ein, die den Blick immer wieder aufs Neue herausfordert – auch diese Seite deckt die Auswahl im Buch ab. Und natürlich zeichnet es nur die für Architekturinteressierte zugänglichen und zumutbaren Orte und Bauten auf, alles andere wird zu Recht ausgeklammert. Doch ohne die Banlieue im Norden von Marseille ist das Bild der Stadt eigentlich unvollständig: Ausserhalb des touristischen Zentrums ist sie alles andere als adrett – und manchmal genau dort wider Erwarten geradezu magisch.
Neben den Einträgen zu einzelnen Gebäuden finden sich sieben Essays und zwei Interviews, die den Blick öffnen und Zusammenhänge aufzeigen: Es geht um Kunst im öffentlichen Raum, die Stadt-Zwillinge Algier und Marseille oder die Metropolregion der Stadt. Die Texte geben einen punktuellen Einblick über die Oberfläche und Fakten hinaus.
Dass Marseille zu entdecken vor allem bedeutet, sich auf Ungewisses einzulassen, erkannte auch der Artiste Marcheur Nicolas Memain: «Du steigst in Marignane aus dem Flugzeug aus und bist sofort geblendet […] Dieses Licht hat eine gewisse Magie. Die Leute aus dem Norden sehen nichts, weil alles im Gegenlicht erscheint. Und weil sie nichts sehen, sehen sie lediglich, was sie sehen wollen. Und so gibt es alles.»
Carina Kurta: Architekturführer Marseille. Mit Ausflügen nach Aix-en-Provence, Arles und an den Étang de Berre. DOM publishers, Berlin 2023. Softcover, 368 Seiten, 670 Abbildungen, 13.4 × 24.5 cm, ISBN 978-3-86922-395-7, Fr. 49.90
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