Auf dem Weg zu ei­ner gleich­be­rech­tig­ten Bau­kul­tur

Interview mit Beatrice Aebi, Präsidentin Netzwerk «Frau und SIA»

Am 7. Februar 1971 erhielten die Schweizer Frauen das nationale Stimmrecht: ein überfälliger Schritt auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter. Wo stehen wir ein halbes Jahrhundert später im Bereich der Baukultur? Darüber haben wir uns mit Beatrice Aebi unterhalten.

Publikationsdatum
07-02-2021

espazium.ch: Frau Aebi, wie hat sich in den 14 Jahren Ihres Wirkens als Präsidentin von «Frau und SIA» die Situation für weibliche Fachkräfte in der Baubranche entwickelt?

Beatrice Aebi: Der prozentuale Anteil an weiblichen SIA-Mitgliedern ist von einem ziemlich marginalen Niveau auf ein ansehnlicheres gestiegen. Auch unser Netzwerk ist gewachsen. Leider konnten wir aber noch nicht in allen Berufsgruppen des SIA den Anteil von 20% Frauen erreichen, den wir uns in Vereinbarung mit dem Vorstand des SIA für das Jahr 2020 zum Ziel gesetzt hatten. Einzig bei den Architektinnen wurde diese Grenze schon 2016 überschritten: Aktuell machen sie 21.9% aus.
Trotz dieses Zuwachses passiert es immer noch oft, dass man als einzige Frau mit lauter Männern am Tisch sitzt. Daran gewöhnt man sich, aber es herrscht eine andere Atmosphäre, wenn mehr Frauen anwesend sind.

Frauen unter den SIA-Mitgliedern

16% ist der Anteil der Frauen an den gesamten SIA-Mitgliedern im Jahr 2020. Im Jahr 2003 waren es 8,7%.

Diese Zahlen ändern sich je nach Berufsgruppe: Bei den Architekten liegt der Anteil der weiblichen Mitglieder bei 21,9%, bei den Ingenieuren bei 5%.

Weitere Daten finden Sie in der Bildergalerie. Die Statistiken variieren, je nachdem, wie die einzelnen Universitäten Daten erheben.

Was sind die grössten Schwierigkeiten, mit denen Frauen in der Baubranche konfrontiert sind?

Statistiken1 zeigen deutlich: Bis heute bestehen zwischen Männern und Frauen Lohnungleichheiten, die sich nicht durch Dienstjahre, Ausbildung oder Hierarchiestufe erklären lassen. Und es passiert leider immer noch, dass Frauen, die sich für ein Kind entscheiden, Probleme bekommen. Wir hören da schockierende Geschichten. Ich möchte meine Kolleginnen – vor allem die jungen – jedoch ermutigen, Gelegenheiten beim Schopf zu packen, mehr zu wagen.

Frauenquoten können ein Instrument sein, um den Frauenanteil in Funktionen mit einer gewissen Sichtbarkeit zu erhöhen. Welchen Standpunkt vertritt Ihr Netzwerk diesbezüglich?

Dem «Global Gender Gap Report» des WEF (2020) zufolge erreichen wir die Geschlechtergleichheit, wenn es im aktuellen Tempo weitergeht, in hundert Jahren … Angesichts dieses Schneckentempos bin ich persönlich für eine Quote von mindestens 35% Frauen (und Männern) in Gremien, leitenden Ausschüssen, bei der Vergabe von Lehrstühlen. Was die Vertretung von Frauen in Wettbewerbsjurys betrifft, sollte der SIA diese meiner Meinung nach einfordern, beispielsweise im Rahmen der Beurteilung der Konformität mit den SIA-Ordnungen 142/143.

1999 publizierte die Gruppe «Frau am Bau» (deren Erfahrungen später als Grundlage für «Frau und SIA» dienten) ein ironisches Sammelalbum: Professorinnen für Architektur und Entwurf an den Eidgenössischen Technischen Hochschulen, mit nur zwei Sammelbildern, nämlich Flora Ruchat-Roncati und Inès Lamunière. Heute sehen die Zahlen besser aus, aber es gibt nach wie vor deutlich weniger Professorinnen. Steht das Netzwerk «Frau und SIA» zu diesem Thema mit den Hochschulen in Kontakt?

Wir haben mehrmals versucht, mit der ETH Zürich ins Gespräch zu kommen, auch zusammen mit dem SIA, aber leider mit mässigem Erfolg. Zwar gibt es heute proportional deutlich mehr Professorinnen als damals, aber das Thema scheint keine Priorität zu geniessen, wie auch ein «Kulturplatz»-Beitrag zeigt. Was die EPFL betrifft, halten unsere Kolleginnen der Sektion Waadt seit einigen Jahren an den Diplomfeiern die Abschlussrede. Die Regionalgruppe Tessin ist bisher inaktiv, daher bin ich über die Situation an der USI nicht näher informiert.

Während das Verhältnis zwischen Studentinnen und Studenten in der Architektur recht ausgewogen ist, sieht es im Bereich Ingenieurwissenschaften und Technik schlechter aus. Worauf ist dieser Unterschied zurückzuführen?

Das Problem betrifft alle sogenannten MINT-Fächer, also Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik. Dass Frauen an Technischen Hochschulen und Fachhochschulen in den MINT-Fächern eine Minderheit darstellen, ist eine Tatsache. Gleiches lässt sich auch bei den Berufslehren beobachten: Nur wenige Frauen wählen einen handwerklichen oder technischen Beruf.

Sicher beeinflusst die Tatsache, dass es in diesen Berufsgruppen nach wie vor nur wenige weibliche Vorbilder gibt, die Berufswahl der Mädchen. Um ihr Interesse – beziehungsweise das Interesse aller Kinder – zu wecken, müsste man meiner Meinung nach schon in der Primarschule auf diese Berufe aufmerksam machen; auf Mittelschulstufe ist es oft schon zu spät. Ein Beispiel für unser Engagement ist unser Buch Die findige Fanny1, dessen französische Ausgabe Ingénieuse Eugénie in den Kantonen Waadt und Genf Eingang in den Primarschul-Lehrplan fand. Es ist bekannt, dass heute grosser Fachkräftemangel herrscht und es zur Verbesserung dieser Situation wichtig ist, dass sich auch Mädchen für unsere Berufe entscheiden.

Sie treten demnächst als Präsidentin des Netzwerks «Frau und SIA» zurück, dem sie während 14 der 17 Jahre seines Bestehens vorstanden. Was betrachten Sie als Ihre grössten Errungenschaften?

Sicher einmal die Tatsachen, dass die Mitgliederzahl des Netzwerks von 7 auf 366 Mitglieder angestiegen ist, dass wir in der ganzen Schweiz aktiv sind und in die Statuten des SIA2 aufgenommen wurden. Dazu kommen Buchveröffentlichungen, Studienreisen, hochkarätige Vorträge und Debatten, die wir in professionell-freundschaftlicher Atmosphäre organisiert haben. Wir sind stolz darauf, dass wir viele hochverdiente Schweizer Fachfrauen unter uns haben und international bekannte Kolleginnen bei uns empfangen konnten. Und wenn ich auf die Entwicklung innerhalb des SIA zurückblicke, dessen Vorstand heute zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen zusammengesetzt ist, kann ich sagen, dass wir in den letzten Jahren ein gutes Stück Weg zurückgelegt haben.

Alle unsere Aktivitäten dienen dazu, die weibliche Kreativität und Kompetenz in unserer Branche sichtbar zu machen. Das nächste Ziel besteht natürlich darin, die noch vorhandenen Hindernisse zu beseitigen und dort, wo es nötig ist, für bessere Chancen zu sorgen. Insofern denke ich, dass unsere strategischen Ziele zukünftig politischer Natur sein werden. Ich möchte, dass meine Tochter nicht die gleichen Erfahrungen machen muss wie ich.

Übersetzung aus dem Italienischen: Barbara Sauser.

Projekte von «Frau und SIA» zum 50. Jahrestag des Frauenstimmrechts
 
In Zürich gibt es zehn Tage lang Veranstaltungen im Münsterhof, die vom Verein Créatrices.ch in Zusammenarbeit mit verschiedenen Vereinen, unter anderem auch das Netzwerk «Frau und SIA», organisiert werden. 

50 Jahre Frauenstimmrecht – 50 Porträts: «Frau und SIA» besucht 50 Frauen aus der Regionalgruppe Zürich und stellt sie in kurzen Porträts vor. Mehr zum Projekt: frau.sia.ch

Eine Übersicht über weitere Anlässe im Jubiläumsjahr des Frauenstimmrechts finden Sie hier.


Verbände für Gleichstellung in der Baukultur
Frauen und SIA-Netzwerk
Schweizerischer Verein der Ingenieurinnen (SVIN)
Fachfrauen Umwelt
Lares

 

Anmerkungen

1 Siehe Statistik des Bundesamts für Umwelt www.bfs.admin.ch sowie www.nzz.ch
2 «Frau und SIA» ging 2004 aus dem Projekt «Frau am Bau» hervor und ist seit 2014 als Netzwerk organisiert. Im selben Jahr wurde «Frau und SIA» als die für die Förderung der Gleichwertigkeit der Geschlechter zuständige Stelle in die Statuten des SIA aufgenommen. «Der SIA […] engagiert sich für gleiche Chancen in Wirtschaft und Wissenschaft sowie für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Zu diesem Zweck bildet er ein Netzwerk, dem sich alle Mitglieder des SIA anschliessen können.» SIA, Statuten, Artikel 2, Absatz 4.

 

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