Wunder der Statik
Unvorhergesehenes
Als Praktikantin stand ich einst in einer alten Fabrik und rätselte, warum sie nicht längst eingestürzt war. Die Wände waren morsch, und in der Geschossdecke hatte jemand, wie wir verblüfft feststellten, schon vor Jahren mehrere Balken durchtrennt. Mein Chef grinste: «Die Fensterscheiben tragen mit.» Damals lernte ich, dass man beim Bauen mit allem rechnen muss, auch mit Wundern. Und ich begriff, dass Wunder wie dieses das Vertrauen zu einem Gebäude nicht eben fördern.
Das seltsame Tragverhalten von Fenstern begegnete mir diesen Sommer erneut – und wieder schicksalhaft. Eine zum Wohnhaus transformierte Scheune hatte ein neues Fenster erhalten, das auch in Bezug auf die Statik ungeahnte Perspektiven zu eröffnen schien. Im ersten Moment war ich nur perplex: Wozu dient das vertikale Stahlprofil, so massiv, dass es die Fassade stützen könnte? Wieso hängt es in der Luft?
Dann aber erinnerte ich mich an die alte Fabrik und wurde von quälenden Zweifeln ergriffen. Vielleicht hatte ich ihr Unrecht getan. Vielleicht ist ein unscheinbares Fenster, das auf wundersame Weise ein Gebäude trägt, gar nicht so übel; oder zumindest besser als eines, das aus seinem ganz gewöhnlichen Nicht-Tragen eine Show macht … Denn das ist nun wahrlich kein Wunder.